EBERHARD NEHLSEN Liedpublizistik des Dreißigjährigen Krieges |
Der viel größere Komplex der Flugschriften ist jedoch weitgehend unerschlossen. [6] Der folgende Beitrag ist zu verstehen als eine Art Zwischenbilanz auf der Grundlage des bislang verfügbaren Materials. Dabei stehen zwei bisher wenig beachtete Aspekte im Vordergrund, zum einen die Publikationsmedien Flugblatt und Flugschrift, zum andern die spezifisch musikalische Dimension der Lieder.
Gegen Ende des 15. Jahrhunderts begann die Nutzung des Buchdruckes als Medium zur Liedverbreitung. Damit wurde eine entscheidende Umwälzung in der Liedkultur eingeleitet. Waren Lieder im Volksgesang bis dahin im wesentlichen mündlich überliefert worden, ermöglichte der Druck eine schnelle und massenhafte Verbreitung von Liedern. Liedflugblatt und Liedflugschrift [7] wurden zu ersten Massenmedien der populären Musik, die die Liedkultur der frühen Neuzeit entscheidend prägten. Das Repertoire an Liedern setzte sich zusammen aus alten, bekannten Liedern und aus neuen, aktuellen Liedern. Die Motivation der Produzenten der kleinen Lieddrucke bestand aus zwei Aspekten: "Zum einen dienen geistliche und weltliche Lieder von jeher der Verbreitung der in den Texten übermittelten Botschaften oder Aussagen, d.h. sie sind Medien der Katechese und Propaganda, zum andern sind sie für die Drucker auch ein Gegenstand der Warenproduktion und kommerzieller Kalkulation". [8] Das zahlenmäßig dominierende Medium war in der frühen Neuzeit eindeutig die Liedflugschrift. [9] Beiden Medien gemeinsame Merkmale sind Titel, die den Inhalt des Liedes oder der Lieder angeben, z.T. sehr ausführlich, und Tonangaben, die auf bekannte Lieder verweisen, damit die Lieder auch gesungen werden können. Noten werden solchen Lieddrucken nur sehr selten beigegeben. Während die Illustration beim Liedflugblatt eine große Rolle spielt, ist die Bedeutung des Bildes bei der Liedflugschrift wesentlich geringer. Oft passen Illustrationen überhaupt nicht zu dem gedruckten Lied, oder sie sind durch Zierstücke ersetzt oder fehlen ganz - vor allem im 17. Jahrhundert. Die Infrastruktur der Liedpublizistik, d.h. Produktion, Distribution und Rezeption von Lieddrucken, war - so weit man dies aus dem erhaltenen Bestand erschließen kann - in den ersten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts noch intakt. Erst nach 1633 nimmt die Zahl der Lieddrucke rapide ab, vermutlich eine Folge des Krieges.
Was sind "Lieder des Dreißigjährigen Krieges"? Kurz gesagt, verstehe ich darunter Lieder der Jahre 1618-1649, die einen expliziten Bezug zum Krieg oder seinen unmittelbaren Folgen haben. Somit gehören dazu:
- Lieder über die eigentlichen militärischen und politischen Ereignisse des Krieges (Feldzüge, Schlachten, Belagerungen, Eroberungen, Fürstentreffen, Friedensschlüsse usw.) [10], Lieder über die an führender Stelle handelnden Personen (Spottlieder, Preislieder, Trauerlieder z.B. über Kardinal Klesl, Maximilian von Bayern, Friedrich V., Tilly, Spinola, Mansfeld, Christian von Halberstadt, Christian IV. von Dänemark, Gustav Adolf, Herzog Karl von Lothringen), grundsätzliche Polemiken, etwa antijesuitische Lieder;
- Lieder über die mittelbaren Kriegsfolgen Teuerung (Kipper- und Wipperlieder), Hunger, Pest, Verfall der Sitten, Geiz, Modetorheiten (Alamodelieder), Lieder über tatsächliche oder fiktive Ereignisse (Naturkatastrophen, Himmelserscheinungen, Wunderzeichen, Prophezeiungen), die in den Texten selbst in einen Zusammenhang mit dem Krieg gebracht werden. Gerade in diesen Liedern zeigen sich immer wiederkehrende Topoi der Deutung der Ereignisse als Strafen Gottes verbunden mit der Aufforderung zur Buße, die anschaulich machen, wie die Bevölkerung mit der Angst vor dem Krieg und seinen Folgen umging.
Da nur wenigen Lieddrucken Melodienotationen beigegeben sind, ist als wichtigstes Kriterium zur Singbarkeit das Vorhandensein von sogenannten Tonangaben anzusehen, die meistens auf dem Titelblatt, mitunter aber auch innerhalb der Liedüberschrift zu finden sind. Bei Dichtungen ohne Tonangaben ist der Liedcharakter häufig aus dem Liedtext selbst zu entnehmen, sei es, daß schon im Liedeingang die kontrafazierte Vorlage zitiert wird [13], sei es, daß ausdrücklich von "Singen" [14] oder von "Lied" [15] gesprochen wird. In weiteren Fällen ist ein Lied anzunehmen, wenn die Dichtungen strophisch gegliedert und in Versformen abgefaßt sind, die den gängigen Liedern der Zeit eigen sind. [16]
Aus den mir bis jetzt zugänglichen Quellen [17] habe ich eine Liste von 608 Liedern des Zeitraumes 1618 bis 1649 zusammengestellt, die einen direkten oder indirekten Bezug zum Dreißigjährigen Krieg in Europa aufweisen. [18] Dieses Sample kann nur vorläufiger Art sein, da viele Quellen wahrscheinlich noch unbekannt sind. Es ist unmöglich, auf die Lieder im einzelnen einzugehen. An dieser Stelle sollen nur einige Beobachtungen mitgeteilt werden, die sich beim Studium der Lieder und der Quellen ergaben. Die folgende Graphik zeigt die Verteilung der Lieder auf die einzelnen Jahre (Graphik 1).
Zwei Dinge fallen ins Auge: zum einen die Jahre mit sehr hohen Liedzahlen 1620-1622, 1626 und 1631-1633, zum andern der eklatante Rückgang der Zahlen nach 1634. Auch wenn das Quellenmaterial noch nicht vollständig überschaubar ist, dürfte es sich hier um Phänomene handeln, die reale Tendenzen widerspiegeln. Die Konzentration der Publizistik auf den böhmisch-pfälzischen und den schwedischen Krieg ist schon seit langem bekannt. Für den Bereich der Bildpublizistik hat Michael Schilling überzeugend dargelegt, daß das Engagement der mehrheitlich lutherischen, überwiegend süddeutschen Reichsstädte, die zugleich Druckzentren waren, gegen den calvinistischen "Winterkönig" für die Flut der Drucke verantwortlich gewesen sein dürfte. [19] Während des schwedischen Krieges waren die Zerstörung Magdeburgs, der Siegeszug Gustav Adolfs und sein Tod Anlässe für die protestantische Propaganda, massenhaft publizistisch tätig zu werden. Für den Bereich der Liedpublizistik lassen sich diese Tendenzen bestätigen. Auf die sechs Jahre 1620-1622 und 1631-1633 entfallen allein 303 Lieder, d.h. fast genau die Hälfte aller Lieder dieses Samples. Auffällig und ohne Parallele in der Produktion illustrierter Flugblätter ist nur das markante "Hoch" der Liedzahl des Jahres 1626. Dieses läßt sich vor allem zurückführen auf zwei Kriegsereignisse, die einen besonders starken Widerhall in Liedern fanden: zum einen der Krieg in Niedersachsen mit den Niederlagen Christians IV. von Dänemark gegen Tilly und Mansfelds gegen Wallenstein, zum andern der Aufstand der oberösterreichischen Bauern. [20]
Die Publikation der Lieder erfolgte bevorzugt in den beiden Medien Flugschrift und Flugblatt. Die Überlieferung stützt sich ganz entscheidend auf diese beiden Druckgattungen. Daneben sind relativ viele (68) Lieder auch handschriftlich überliefert. Das bevorzugte Medium war eindeutig die Liedflugschrift. Von den 530 Druckwerken mit Liedern, die dem untersuchten Sample zu Grunde liegen, sind 411 Flugschriften und 114 Flugblätter. [21] Dies entspricht einem Verhältnis von ca. 4:1. Da die Flugblätter dieses Zeitraumes ungleich besser erschlossen sind als die Flugschriften, ist es wahrscheinlich, daß sich dieses Verhältnis bei weiterer gezielter Nachforschung in Bibliotheken und Archiven noch mehr zugunsten der Flugschriften verschiebt.
Ein Gradmesser für die Verbreitung eines Liedes kann die Zahl der verschiedenen Auflagen oder der Nachdrucke sein. Bei einigen Liedern ist auffällig, wie viele verschiedene Auflagen es gibt. So sind mir von dem Spottlied "Zeug Fahler zeug, balde wolln wirn Tylli treschen" sechs verschiedene Flugschriftenausgaben bekannt [22], von dem Gratulationslied für den neugekrönten böhmischen König Friedrich und seiner Gemahlin sind sieben verschiedene Flugblattausgaben nachweisbar [23], und von einem Alamodelied sogar 11 Flugblattausgaben und eine Flugschriftausgabe. [24] Die Mehrfachüberlieferung ist aber nicht die Regel. In dem untersuchten Sample sieht das Verhältnis folgendermaßen aus: 397 Lieder sind nur in einer Liedflugschrift überliefert, 55 sind in zwei oder mehr Liedflugschriften überliefert, 60 Lieder sind nur in einem Liedflugblatt überliefert, 9 in zwei oder mehr Liedflugblättern, 11 Lieder sowohl in Liedflugschriften als auch in Liedflugblättern, 52 nur handschriftlich, 13 in Flugschriften und Manuskripten, 2 in Flugschriften, Flugblättern und Manuskripten.
Es wurde schon erwähnt, daß nur wenige der Lieder in den Drucken mit Noten versehen sind. [36] Die Regel ist, daß die Lieder mit einer Tonangabe versehen werden, mit einem Hinweis auf eine bekannte Melodie, die das Singen des Textes durch die Käufer/Leser ermöglicht. Tonangaben sind das Bindeglied zwischen mündlicher und schriftlicher Sphäre, und sie machen diese Lieddrucke auch ohne Noten zu musikalischen Quellen. [37] Neben der Funktion des effektiven Transports neuer Texte erfüllen die Tonangaben noch eine zweite wichtige Aufgabe. Durch die bewußte Wahl einer Melodie, die mit bestimmten Konnotationen besetzt ist, werden bei den Rezipienten Assoziationen hervorgerufen. [38] Zum Beispiel verweist ein Lied über die Zerstörung Magdeburgs ("O Magdeburg du schöne Stadt / verbrunnen und zerstöret" [39]) auf das Lied "An Wasserflüssen Babylon" als zu singende Melodie und bringt somit schon auf musikalischer Ebene das Gefühl von Trauer zum Ausdruck. Die Entschlüsselung derartiger Beziehungen ist nicht immer einfach und setzt die umfassende Kenntnis von Text und Umfeld des melodieliefernden Liedes voraus. Hier bietet sich der Liedforschung der frühen Neuzeit noch ein weites Feld für Untersuchungen. Die vielfältigen Möglichkeiten des Kontrafazierens seien am Beispiel einiger Kontrafakturen [40] des Wilhelmusliedes beschrieben. Das Lied "Wilhelmus von Nassauen", das zu Beginn des niederländischen Aufstandes gegen die spanische Herrschaft entstand und die führende Rolle Wilhelms von Oranien in diesem Aufstand propagierte, wurde schon in den 70er Jahren des 16. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum verbreitet und blieb dort mehr als 100 Jahre bekannt. [41] Im 16./17. Jahrhundert diente das Lied als Vorlage für etwa 40 deutschsprachige Kontrafakturen, vor allem für politische Lieder. Mit dem Wilhelmuslied wurden Ideen, Auffassungen und Stimmungen transportiert, die in den Auseinandersetzungen um 1600 und auch während des Dreißigjährigen Krieges eine wichtige Rolle spielten: es war das Lied eines protestantischen Helden, der mit Erfolg gegen die übermächtig erscheinenden habsburgisch-spanischen Mächte gekämpft hatte. Mit dem Lied waren also die Konnotationen "Heldenlied", "antikatholisch" und "antispanisch" verbunden. [42]
Wahrscheinlich 1621 entstand ein Lied, das dem geflüchteten Friedrich V. in den Mund gelegt wurde und in dem eine sehr weitgehende Parallele zwischen ihm und Wilhelm von Oranien, der ebenfalls ins Exil gehen mußte, gezogen wurde. Das Lied imitierte das Wilhelmuslied fast vollständig, hier ein Vergleich der beiden ersten Strophen:
(W)Jlhelmus von Nassawe / bin ich von Teutschem Blut / dem Vatterland getrauwe / bleib ich biß in denn Todt / Ein Printze von Vranien / bin ich frey vnversehrt / den König von Hispanien / hab ich allzeit geehrt. [43] |
(F)Ridrich am Rhein Pfaltzgrave / Bin ich von Teutschem Bluot: Dem Vatterland getrewe / Bleib ich biß in den tod / Ein König in Böhm erkohren / Bleib ich frey vnversehrt / Käys. Majestät der gebühre / Hab ich allzeit geehrt. [44] |
Alle 15 Strophen der Vorlage werden in dieser Weise imitiert, nur die notwendigsten Namen und Begriffe werden ersetzt. Es ist, als würde Friedrich in das Gewand Wilhelms schlüpfen, um alle positiven Eigenschaften und Assoziationen, die mit Oranien verknüpft waren, auf sich zu beziehen. Ein derartiger Fall von durchlaufender Entlehnung [45] ist relativ selten. Häufiger ist die gelegentliche Entlehnung bestimmter Wendungen, wie in dem Lied, das Christian IV. von Dänemark (zugleich König von Norwegen) in den Mund gelegt ist:
(C)Hristianus von Norwegen / Bin ich ein frischer Held / Mein Glück vnd all mein Segen / Hab ich zu GOtt gestelt / Den Käyser vnd alle Fürsten / Hab ich allzeit geehrt / Vor Tylli dem Landstreicher / Bin ich noch vnverfehrt. [46] |
Das Lied beschreibt die Ereignisse des dänischen Feldzuges von 1625 und wird wohl gegen Ende des Jahres verfaßt worden sein, jedenfalls vor der Schlacht von Lutter am Barenberge (August 1626). Vor allem im Anfang ist diese Kontrafaktur eine Nachbildung des Wilhelmusliedes (initiale Entlehnung): ein Fürst, der sich mit Namen (in latinisierter Form) und Herkunftsbezeichnung vorstellt, seine Ehrerbietung anderen Fürsten gegenüber bezeugt und seine Furchtlosigkeit unterstreicht. Thematisch sind zwei Entlehnungsaspekte festzustellen: Christian bekämpft, wie Wilhelm von Oranien, das katholische Lager, das Lied benutzt also die antikatholische Konnotation des Wilhelmusliedes. Auch in diesem Lied spricht ein Fürst, ein Held von sich und rechtfertigt sein eigenes Verhalten. Die Verspottung des Gegners, die das ganze Lied durchzieht, ist allerdings dem Wilhelmuslied fremd.
Nach der Schlacht von Lutter entstand ein Lied ebenfalls "Im Thon. Wilhelmus von Nassoue", das Tilly sprechen läßt und das als ein direktes Gegenlied zum Christianslied aufgefaßt werden kann:
Graff Tillj ein küner Helt, heist man mich alle zeitt, ich halte mich in dem felde, ieder zeit gahr woll bereit, den Käyser vnd Bayerfürsten, habe Ich alltzeit geehrt, vom König von Norwegen, bleib ich noch Vnuerfehrt. [47] |
Formulierungen des Christiansliedes werden aufgegriffen und gegen ihn gewendet. Hier wird die Tonangabe also nicht dazu benutzt, die Konnotationen des Wilhelmusliedes auszunutzen, sondern die literarischen Entlehnungen aus dem Christianslied und die Übernahme der "feindlichen" Melodie dienen dazu, den Gegner mit dessen eigenen Waffen publizistisch zu bekämpfen.
Etwa 1627 entstand ein Lied, das den schwedisch-polnischen Krieg zum Gegenstand hat:
Gustauus Königk in Schweden, Bin ich ein tapffer Heldt, Von Got kombt all mein segen, ich habe es ihm heimgesteldt, Die Pfaffen vndt die Könige, habe ich allezeit geehret, Fur euch Pohlen vndt Landtstreicher, bin ich noch vnuorführet. [48] |
Wie ein Vergleich zeigt, war das Christianslied unzweifelhaft die Vorlage für dieses Lied. Es ist derselbe vorherrschende Grundton, das spöttische Verächtlichmachen des Gegners (hier: der polnische König). Eine Tonangabe ist in der einzigen Überlieferung nicht vorhanden, als Ton ist aber mit Sicherheit das Wilhelmuslied anzunehmen. Das Lied auf Gustav Adolf ist offenbar weit verbreitet gewesen und führte 1631 zu einem Nachfolgelied:
(G)Vstaph Adolph auß Schweden / ein König von GOTT erwehlt / von dem kombt alle mein Leben / jhm hab ichs heimgestellt / LiffLand hab ich gewonnen / Vnlängst als ein Soldat / hoff noch mehr zubekommen / allein durch GOttes Gnad. [49] |
Der Krieg gegen die Polen wird angeschnitten, aber auch die neuen Entwicklungen seit 1630, als Gustav Adolfs Aktionen auf dem Reichsboden begannen. Als Gegner wird, wieder in verächtlichem Ton, diesmal der Kaiser angesprochen. In diesem Lied wird ein Argumentationsmuster verwendet, das in dem Vorläuferlied von 1627 noch keine Rolle spielte, in den Jahren 1630-1632 aber häufig vorkommt: "Die Vrsach meiner Kriegen / Jst allein Gottes Wort" (Strophe 5) und "Die Evangelisch Lahr / Die zu beschützen ich bin bereit" (Strophe 8). Gustav Adolf wird als der von Gott gesandte Beschützer der evangelischen Lehre dargestellt. [50] Dieses Gustav-Adolfslied besitzt in einer der beiden Quellen keine Tonangabe, in der anderen die Tonangabe "Es ist ein neuer Orden, erstanden zu der Frist". [51] Eine Erklärung ist schwierig. Hat das Lied einen anderen Ton, eine neue Melodie bekommen? Oder ist zu dem alten Ton "Wilhelmus von Nassauen" ein zweiter, ein Alternativton gekommen? Ich halte bei jetzigem Kenntnisstand die zweite Möglichkeit für wahrscheinlich. Dieses Gustav-Adolfslied ist durch seine Vorläufer eng mit dem Wilhelmuslied verbunden. Ohne die Kenntnis der Zwischenglieder wüßte man nichts von der Beziehung zum Wilhelmuslied. [52] So wie in diesem Fall, so könnte man bei intensiverer Forschung sicherlich die Töne weiterer Lieder ermitteln, denen keine explizite Tonangabe beigegeben ist.
Im folgenden werden die zehn am häufigsten vorkommenden Tonangaben der in dem Sample vorhandenen 608 Lieder aufgelistet [53]: Graf Serin 31 (+3); Kommt her zu mir spricht Gottes Sohn 24 (+8); Warum betrübst du dich mein Herz 22; Hilf Gott daß mir gelinge 13 (+1); Wilhelmuslied 12 (+7); Wenn mein Stündlein vorhanden ist 11; Wo Gott der Herr nicht bei uns hält 10 (+1); Es ist das Heil uns kommen her 7 (+1); Da Jesus an dem Kreuze stund 8; Wie schön leuchtet der Morgenstern 7. Die am häufigsten verwendete Tonangabe ist das Lied vom Grafen Serin, das den Tod des Grafen Zriny im Kampf gegen die Türken 1566 behandelt. Der Textbeginn lautet: "Wie gerne wollt ich singen, so ficht mich Trauer an". [54] Es war für etwa 100 Jahre sehr populär und wurde häufig kontrafaziert, interessanterweise am häufigsten während des Dreißigjährigen Krieges.
Warum wurde gerade diese Tonangabe so oft gewählt? Bei der Durchsicht der Kontrafakturen scheinen mir zwei Dinge relevant zu sein. Zum einen wird das Lied vom Grafen von Serin von der Grundstimmung Trauer beherrscht. In vielen Kontrafakturen des Liedes ist ebenfalls ein Grundtenor der Trauer vorhanden, Trauer über Niederlagen, Grausamkeiten des Krieges, die Not und die schweren Zustände allgemein. Zum zweiten wird in dem Lied ein Held besungen, und zwar ein Held, der im Kampf gegen die Türken gefallen war, dem nach damaliger Auffassung gemeinsamen Feind aller Christen. Das Lied war also - anders als das Wilhelmuslied - nicht konfessionell fixiert, wir finden daher Kontrafakturen mit sowohl katholischer wie auch mit protestantischer Tendenz.
Es fällt auf, daß acht dieser zehn Spitzenreiter geistliche Lieder sind. Das erscheint folgerichtig, waren doch konfessionelle Auseinandersetzungen wesentliche Elemente im Dreißigjährigen Krieg. Ein Blick auf die gesamte Liedpublizistik des 16./17. Jahrhunderts zeigt jedoch, daß es sich bei sechs von ihnen um häufig vorkommende, allgemein gängige und konfessionell kaum oder gar nicht fixierte Tonangaben handelt, die für viele Arten von Liedern, vor allem aber für Zeitungslieder verwendet wurden. [55] Für Zeitungslieder war die Verbindung von Nachricht mit religiöser Deutung und Aufforderung zur Buße typisch, und insofern spiegelt die Wahl geistlicher Melodien den Charakter dieser Lieder wieder. [56] Ihr häufiges Vorkommen in den Jahren während des Dreißigjährigen Krieges bedeutet nicht eine besondere Bevorzugung geistlicher Tonangaben während dieses Zeitraums, sondern es ist eher ein Beleg für die Kontinuität der Liedpublizistik im 16./17. Jahrhundert. Lediglich bei der Tonangabe "Es ist das Heil uns kommen her" ist eine überwiegend protestantische Verwendung zu konstatieren, die der hervorgehobenen Rolle als evangelischem Kernlied entspricht. Ähnliches ist bei der Tonangabe "Wie schön leuchtet der Morgenstern" festzustellen.
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