EBERHARD MANNACK Die Rezeption des Dreißigjährigen Krieges und des Westfälischen Friedens in der deutschen Literatur des 18. bis 20. Jahrhunderts |
Im Prolog von 1798 stellt der Dichter Bezüge zu aktuellen Ereignissen her, die den Dramenstoff als epochal erscheinen lassen:
"Zerfallen sehen wir in diesen Tagen Die alte feste Form, die einst vor hundert Und funfzig Jahren ein willkommner Friede Europens Reichen gab, die teure Frucht Von dreißig jammervollen Kriegesjahren." [3] |
Gemeint ist der durch die Revolution eingeleitete Umbruch, dem das "Heilige Römische Reich Deutscher Nation" schon bald zum Opfer fiel. Der Westfälische Friede hatte an diesem Konstrukt festhalten müssen, das Deutschlands historische Entwicklung nachhaltig hemmte. Indem Schiller die zeitgenössische Gegenwart mit der Vergangenheit verknüpft, übt er Kritik an einer Misere, deren politische Folgen zahlreiche Beobachter noch in der jüngsten Vergangenheit wahrzunehmen vermeinen.
Die eigentliche Intention des großen Geschichtswerkes erklärt sich freilich aus dem historischen Kontext. In enger Anlehnung an Vorstellungen der Aufklärung unternimmt Schiller eine "historische Theodizee" insofern, als er den schrecklichen Krieg - wie Exzesse der Unordnung überhaupt - als Durchbruch einer neuen Ordnung zugunsten menschlicher Selbstherrschaft interpretiert. [4] Danach dominiert die Reformation fortan alles historische Geschehen, weil sie dank der konfessionellen Solidarität nationale Beschränkungen überwinden und einer Weltkultur den Weg ebnen hilft. In den daraus entspringenden Kämpfen erhält der Religionseifer freilich nur die Funktion eines Katalysators, dessen sich die Führungseliten aus Gründen des Eigennutzes und der Staatsräson bedienen. Nur unter Berufung auf den Glauben gelingt die Mobilisierung der Massen über Jahrzehnte hinweg, und sie vertieft noch die Annäherung unterschiedlicher Staaten, welche durch Überwindung nationaler Schranken der Vorstellung eines Weltbürgertums Vorschub leistet. [5]
Schillers Erklärungsversuch verweist auf die List der Vernunft im Gang der Historie. Das relativiert die allenthalben sichtbare Prävalenz von Personalgeschichte, erscheinen doch Ferdinand II., Gustav Adolf und Wallenstein als eigentliche Akteure im wechselhaft-verwirrenden Verlauf des Krieges. Sie werden zwar unterschiedlich bewertet, aber doch in der Absicht, ihnen gerecht zu werden.
Der Friedensschluß wird verblüffend kurz abgehandelt. Daß mit der Erhaltung des schon von Pufendorf als Monstrum bezeichneten Reichskörpers die deutsche Situation sich eher verschlechterte und unter dieser Misere noch Schillers Zeitgenossen litten, ist aus entschieden kritischen Äußerungen zu erschließen. Sie betreffen die Mehrzahl deutscher Fürsten. Die Vorwürfe gelten einem Mangel an "Patriotismus", den er insbesondere im Verhalten der Kurfürsten von Brandenburg und Sachsen feststellt. Letzterer wird ausdrücklich als unterwürfig bezeichnet. Die gleiche Mentalität diagnostiziert Schiller für die Reichsstände überhaupt angesichts der rechtswidrigen Einsetzung eines Reichshofrates:
"Dem Namen Kaiser, einem Vermächtniß des despotischen Roms, klebte damals noch ein Begriff von Machtvollkommenheit an, der gegen das übrige Staatsrecht der Deutschen den lächerlichsten Abstich machte, aber nichts desto weniger [...] von den Beförderern des Despotismus verbreitet, und von den Schwachen geglaubt wurde." [6] |
Mit der Kritik am mangelnden Patriotismus vieler Reichsstände und an einer anachronistischen Majestätsvorstellung meldet sich hier ein Autor zu Wort, der angesichts nationalstaatlicher Sehnsüchte die Verspätung Deutschlands als historische Last erkennt.
Die Wallenstein-Trilogie hebt dies noch entschiedener hervor. Daß Wallenstein im Unterschied zum Kaiserhaus um Deutschland willen nach Frieden strebt, bekundet der Titelheld mehrmals, und weitere wichtige Mitakteure bestätigen dies. Ausdrücklich setzt er sich dabei von jenen egoistischen Territorialherren ab, die bedenkenlos Teile des Reiches Fremden zu opfern bereit sind. Änderungen in den für eine Inszenierung bestimmten Fassungen belegen die Brisanz dieser Aussagen. [7]
Das Schicksal des umstrittenen Mannes war auch in der Folgezeit als Dramen- und Opernstoff sehr beliebt; selbst wenn sich die Stücke am Weimarer Klassiker orientierten, sind sie aus guten Gründen in Vergessenheit geraten. [8]
Nur wenige Jahre nach Schillers Beiträgen zum Dreißigjährigen Krieg wandten sich Vertreter der romantischen Bewegung dem 17. Jahrhundert zu, wobei ihr Interesse nahezu ausschließlich der als altdeutsch etikettierten Literatur galt. Hatte Schiller nur auf historische Zusammenhänge sowie auf einen Umbruch hingewiesen, so kam es nun vielfach zu einer Gleichsetzung von der durch Revolution und nachfolgende Kriege geprägten Gegenwart mit dem "Großen Krieg", die in der Folgezeit zum Topos wurde.
Aus der aktuellen Perspektivik, öfter mit einer antifranzösischen Tendenz verknüpft, erklärt sich zweifelsohne die Vorliebe vieler Romantiker für Grimmelshausens Jupiter-Prophetie, deren Friedenssehnsüchte man in Kants berühmter Schrift wiedererkannte. Der Hinweis auf die Kriegsgreuel hinderte freilich nicht daran, das Soldatenleben mit der Ungebundenheit abenteuernder Vaganten gleichzusetzen, die aus der engen Welt des Philistertums ausbrechen. Mit Recht hat man deshalb von einer reizvoll stilisierten Darstellung der Kriegsatmosphäre gesprochen, die auch bei Fragen der Religion zur Anwendung gelange. [9] Achim von Arnims Kurzschauspiel "Die Vertreibung der Spanier aus Wesel im Jahre 1629" versammelt wesentliche Versatzstücke zeitgenössischer literarischer Vergangenheits-Verarbeitung. Am Schluß gerät das eher komödienhafte Drama vollends zum konfessionellen Propaganda-Stück. Der Spanier verkörpert den verhaßten Ausländer, nicht zuletzt den französischen Nachbarn, und der evangelische Protagonist steht für unerschütterlichen Glauben, reinliche Liebe und vaterländische Treue. Damit sind Stichworte genannt, die in der Literatur der Folgezeit in bezug auf unser Thema vielfach begegnen. [10]
Heinrich Laubes umfangreiches Opus "Der deutsche Krieg" (1863-1866) zeigt sich ebenfalls davon beeinflußt, besitzt aber zugleich spezifische Qualitäten, die sich weitgehend dem literarischen Genre verdanken. In nicht weniger als neun Bänden gibt der Autor detailliert Auskunft über historische wie kulturgeschichtliche Ereignisse vom Beginn der Reformation bis zum Kriegsende 1648, die er in zusammenhängende Erzählstränge zu integrieren vermag. Handlungen wie Personen sind teilweise frei erfunden, verleihen dem Ganzen aber - im Sinne des "Historischen Romans" - Anschaulichkeit und Spannung, wobei Elemente des Kriminalromans Verwendung finden. Der Roman ist nach Persönlichkeiten gegliedert; vom erfundenen "Junker Hans" handeln vier, von "Waldstein" drei und von Bernhard von Sachsen-Weimar die letzten zwei Teile. Mit Junker Hans, einem aufrechten Vertreter der Evangelischen, verknüpft Laube Informationen über den Streit der Konfessionen und der unterschiedlichen Sekten, wobei Hans selbst als gemäßigter Schwärmer utopische Vorstellungen entwickelt. Wie schon bei Entwürfen u.a. von Grimmelshausen oder Leibniz geht es um eine Überwindung der durch den Calvinismus noch verschärften Glaubensspaltung, hier unter der Parole einer neuen Kirche: "Völlige Toleranz und Gleichberechtigung in religiösen Fragen war die Grundbedingung seines Planes." [11]
Diese Forderungen gehören zu einem Memorial, in dem Hans neben religiösen Lösungen auch Gedanken über eine Reform des Reiches vorträgt. Daß er die Toleranz nachdrücklich betont, leitet sich nicht zuletzt aus seiner Situation her, droht doch dem in Wien Inhaftierten die Exekution. Gefangen wurde er dank einer umfassenden Überwachung und Bespitzelung vor allem durch Jesuiten, die eine Atmosphäre der Angst und des Mißtrauens schaffen. Das verweist auf die Biographie des Autors, der wegen Verbindungen zu Burschenschaften exmatrikuliert worden war und dessen Bücher indiziert wurden.
Neben diesen Hoffnungen spielt durchweg das Streben nach nationaler Einheit eine herausragende Rolle, die die Abwehr von Außeneinflüssen beinhaltet. Gemeint sind damit Schweden und Franzosen ebenso wie Wien und Prag. Die Kaisermacht gebühre demnach einem protestantischen Fürsten im Reich, und schon früh erhält Bernhard von Sachsen-Weimar den Vorzug. Wallenstein wird zwar im Verhalten gegenüber den Schweden eine deutsch-patriotische Position zugestanden, doch das Resümee fällt erstaunlich negativ aus: Er war "[...] leiblich und geistig unfähig [...]. Das Ideal eines großen Vaterlandes fehlte in seiner Seele." [12]
Was unter Vaterland zu verstehen ist, erklärt Junker Hans dem unehelichen Sohn Wallensteins. Das Vaterland fehle allen Deutschen:
"In der Größe und außerordentlichen Mannigfaltigkeit des Deutschen Reichs ist der Begriff des Vaterlandes verloren gegangen", obwohl "wir seit einem halben Jahrtausend der maßgebende Mittelpunkt Europas gewesen. Wir haben den Familienschatz vergessen über den Schätzen ausgedehnter Macht" und "entfremdeten Dynastien wie der spanischen die Kaiserwürde überlassen [...]." [13]
Diese in den 60er Jahren niedergeschriebenen Sätze mit Aufzählung der deutschen Landesteile - der "Friesen im Norden, der Kärntner im Süden" usf. - spiegeln Sehnsüchte aufgrund eines Verfassungsgebildes, das noch immer unter den Folgen des Krieges und Friedensschlusses leidet: "Der Westfälische Friede vergiftete das Deutsche Reich in Herz und Nieren. Er vergiftete den Kaiser, er vergiftete die Nation." [14]
Damit endet der voluminöse Geschichtsroman, der im letzten Teil die außerordentlichen Verdienste des gleich anfangs als präsumtiven evangelischen Kaiser genannten Bernhard von Sachsen-Weimar rühmt. Wenn Laube schließlich die nicht bewiesene Vergiftung des Herzogs durch die Franzosen übernimmt und diese als Fälscher dessen Testaments verdächtigt, so belegt dies erneut seine Abhängigkeit vom Zeitgeist.
Diese antifranzösische Tendenz steigert sich in Gustav Freytags "Die Ahnen" (1872-1880) zu unverhohlener Feindlichkeit, nicht zuletzt unter dem Eindruck des Krieges und der Reichsgründung. [15]
Freytags und Laubes Polemik gegen Mönchs- und Pfaffenwesen, die dort, wo die Jesuiten erwähnt werden, eine besondere Schärfe erhält, verweist auf eine Konstante in der Darstellung des Krieges. Von Mönchsintrigen war schon Schiller fest überzeugt, und diese antikatholische Tendenz setzte sich in der Folgezeit entschieden durch. Das gilt vor allem für die zahlreichen Dichtungen über Gustav Adolf, die im 19. Jahrhundert entstanden. Als Glaubensstreiter für evangelische Libertät erscheint er bei den Schillerepigonen und vor allem nach Gründung des Gustav-Adolf-Vereins im Jahre 1832. Daneben preist man ihn zunehmend als Helden, der für deutsche Freiheit und Einheit kämpft, wobei freilich öfter die Tatsache, daß er ein Ausländer ist und sogar Ansprüche auf die Kaiserkrone anmeldet, für Irritationen sorgt. [16] Conrad Ferdinand Meyers Novelle "Gustav Adolfs Page" versammelt nahezu alle diese Aspekte. Hier ist es ein Deutscher, der ihn als Kaiser hochleben läßt, und für dieses Amt ist er offensichtlich geeignet, wie die durchgehende Verklärung des Schwedenkönigs zeigt. [17]
Nachdem sich die Sehnsüchte vieler dank der Reichsgründung ohne fremde Beteiligung erfüllt hatten, überwand die geeinte Nation in geradezu rasantem Tempo jene Verspätung, die von zahlreichen Autoren mit Blick auf die Staaten Westeuropas beklagt worden war. Dieser Modernitätsschub führte zu Ängsten und schien zu bestätigen, was von Philosophen und Literaten prognostiziert worden war. Ihre Skepsis gegenüber dem Fortschrittsoptimismus bezog sich auf den nicht zu steuernden Verfall menschlicher Werte. Der schon von Schiller benutzte Topos, wonach aus Chaos eine Erneuerung und bessere Ordnung hervorgingen, erweckte Vorstellungen eines länderumfassenden Kampfes. Eine "apokalyptische Mentalität" verbreitete sich unter Theologen, Philosophen und Literaten. Das Barockzeitalter als letzter Höhepunkt mit Weltuntergangs-Erwartungen bot sich deshalb zum Vergleich an; sein Schrifttum gewann an Attraktivität, die bis in die Gegenwart anhält. Eine herausragende Position behauptet dabei Grimmelshausens großer Kriegsroman, der schon im ersten Satz apokalyptische Ängste anspricht. [18]
Nicht zufällig erscheinen so kurz vor und kurz nach dem Ersten Weltkrieg zwei Darstellungen von Dichtern unterschiedlicher Provenienz: 1912-1914 publiziert Ricarda Huch "Der große Krieg in Deutschland" und 1920 Alfred Döblin den Roman "Wallenstein", den er als Kriegsteilnehmer in den Jahren 1916-1918 niedergeschrieben hat.
Der Text der Historikerin Huch beeindruckt durch wissenschaftliche Akribie ebenso wie durch poetische Gestaltungskraft. Daß sie sich an Schillers Geschichtswerk anlehnte, kann nur mit starken Einschränkungen akzeptiert werden. [19] Während Schiller seine ganze Aufmerksamkeit auf die Potentaten und Diplomaten, Sieger und Verlierer von Schlachten richtete, um über Motive und ihre Folgen Erklärungszusammenhänge zu erstellen, vergegenwärtigt Huch Geschehnisse aus der Zeit von 1585 bis 1650 in einer Fülle von unterschiedlichen Episoden. Indem sie auf einen ordnenden Gesamtverlauf verzichtet, gelingt es ihr, die Vielfalt der Lebensverhältnisse quer durch alle Schichten sichtbar zu machen.
Daß mit der Umsetzung von großer Historie in Privatleben und Detailmalerei der Bereich des Dokumentarischen verlassen wird, irritiert deshalb nicht, weil die Autorin sich in wesentlichen Fakten auf Zeugnisse berufen kann. Zum Sinnbild des schrecklichen Krieges wurden schon den Zeitgenossen die an Magdeburg verübten Grausamkeiten durch das Heer von Tilly, dessen Stolz auf seine tugendhafte Enthaltsamkeit verspottet wurde. Diesen schillernden Charakter führt Huch am Tatort vor:
"Als Tilly bei der Kathedrale ankam, die der singende Flammenkreis umgab wie ungeheure, im feierlichen Siegesjubel geschwungene Scharlachfahnen, und die dort versammelten Offiziere, die Hüte lüftend, glückwünschend an ihn heranritten, nahm auch er seinen Hut ab und faltete die Hände. Der Herr habe ihm vergönnt, sagte er, dies Heiligtum der wahren Kirche zurückgeben zu können; sein Herz sei voll des Dankes. Nach einer Pause, während welcher die Herren schweigend die Hüte in der Hand hielten, wendete der General sich ihnen zu und dankte ihnen für den Eifer, mit dem sie ihre Pflicht getan hätten." [20] |
Der mit "Zusammenbruch" bezeichnete Schlußteil, den sie bereits Anno 1633 beginnen läßt, versammelt noch einmal die Schrecknisse eines sich sinnlos dahinschleppenden Krieges. Die Politik der Zeit gerät gerade mit Blick auf die sich über Jahre erstreckenden Friedensverhandlungen zur absurden Posse, wobei einzelne Fürsten und zahlreiche Militärs ihre Freude über eine Verlängerung des Krieges nur schwer verhehlen können. Bei der endgültigen Unterzeichnung sind ohnehin einige der Beteiligten davon überzeugt, daß die Vereinbarungen vielfach Anlässe für neue Kriege bieten.
Noch immer borniert verhält sich auch die Geistlichkeit, deren Vertreter auf gemeinsamen Konferenzen der unterschiedlichen Konfessionen den Anspruch auf Alleinbesitz der Wahrheit mit Beschimpfungen Andersgläubiger verbinden. Als durchaus ambivalent erweist sich deshalb auch die Schlußszene - sie spielt 1650 und führt nur zufällig Katholiken und Protestanten zum gemeinsamen Abendmahl zusammen. Anlaß für diese ökumenische Feier ist freilich die brutale Ermordung einer jungen Protestantin durch einen katholischen Offizier, der noch zwei Jahre nach Friedensschluß Kontributionen von armen Bauern einzutreiben versucht. [21]
Döblins "Wallenstein"-Roman, der den Zeitraum von 1620 bis 1634 berücksichtigt, verwendet ebenfalls eine Überfülle an dokumentarischem Material, folgt aber anderen Zielvorstellungen. Der Autor zählte zu den zahlreichen Intellektuellen, die begeistert in den Krieg zogen und in den Materialschlachten desillusioniert wurden. Das schlug sich in der Vorliebe für die Philosophie von Marx und Nietzsche sowie die Psychologie von Freud nieder. Sein Wallensteinbild zielt auf Demontage eines Heldenkults, der besonders durch idealistische Geschichtsschreiber wie Schiller, Ranke oder Srbik gepflegt und von Pekar dann entschieden in Frage gestellt worden war. Bei Döblin erscheint vor allem Wallenstein als Kapitalist schlechthin, der vor keinerlei Manipulation zurückschreckt, um die Gewinne zu maximieren. [23]
Als Ideologie im Sinne von falschem Bewußtsein entlarvt der Autor ebenso alle religiösen Begründungsstrategien, besonders der Machthaber und der Kirchen. Auch sie lassen sich nicht von Glauben oder gar Vernunft, sondern allein von Trieben leiten - vor allem von Habgier, Rachsucht und sadistischen und masochistischen Bedürfnissen. Zügelloser Sadismus zieht sich wie ein roter Faden durch die zahllos aneinander gereihten Szenen, ihn praktizieren Obere wie Niedere. So läßt der Autor die eigentlichen Kräfte erkennen, denen der Mensch weitgehend unbewußt erliegt, und hieraus folgert er, daß der Mensch letztlich bestialisch ist. Durch eine Fülle von Tiermetaphorik weist er allenthalben auf diese Deformation hin, neben vielen Vergleichen mit dem Meer oder Wasser überhaupt, die die Vermassung symbolisieren. [24]
Mit Nietzsche teilt Döblin die Überzeugung, daß Geschichte sich rationaler Erklärbarkeit entzieht und von Amoralität geprägt ist. Wenn sie trotzdem Fortschritte hervorbringt, so kann dies nur als List verstanden werden. Döblin deutet die vielfachen Rebellionen, durch die Normen in Frage gestellt und schließlich außer Kraft gesetzt wurden, als progressive Leistungen. Dazu zählt er die Glaubenserschütterungen, die wachsende Einsicht in die Fragwürdigkeit der Machthaber und den rasanten Aufstieg Wallensteins, der Hierarchie- und Prestige-Vorstellungen der traditionellen Eliten unterminiert.
Nachdem Grimmelshausen 1837 eindeutig als Autor der simplicianischen Schriften identifiziert worden war, erfuhr besonders der "Simplicissimus Teutsch" im Rahmen einer nationalen Literaturtradition eine Kanonisierung, die bis heute nachwirkt. Während konservativ-nationalistische Dichter im Protagonisten deutsches Wesen schlechthin entdeckten und z.T. als Immunisierungsmittel gegen moderne Unnatur einzusetzen wünschten [25], fanden Arnold Zweig und Ludwig Renn ihre Erfahrungen während des Ersten Weltkrieges im großen Roman vorweggenommen. [26] Diese Tendenz zur Parallelisierung und Identifizierung erfuhr neue Impulse durch den Zweiten Weltkrieg und hält bis heute an. Kurz nach Beginn des Rußland- Feldzugs schrieb Johannes R. Becher ein Drama über die Schlacht um Moskau mit unmittelbaren Hinweisen auf Grimmelshausen. Nach Kriegsende bezeichnete er u.a. Fallada und sich als "Dichter des zweiten Dreißigjährigen Krieges", womit er offensichtlich den Zeitraum von 1914 bis 1945 meinte. [27] Seine 1954 publizierte Anthologie "Tränen des Vaterlandes", deren Titel auf das berühmte Sonett mit Gryphius' Klage über die Verwüstungen des Vaterlandes (1636) verweist, spricht in einem geradezu beschwörenden Vorwort die Schicksalsverwandtschaft von Poeten des 17. und 20. Jahrhunderts an und appelliert an westdeutsche Intellektuelle, durch eine weitere Sammlung von barocken Zeugnissen ein deutsches Zusammengehörigkeitsgefühl entwickeln zu helfen. [28]
Auch für Ina Seidel, die unter Hinweis auf den Westfälischen Frieden 1949 eine Reihe von Gryphius-Sonetten herausgibt und mit den "Tränen des Vaterlandes" eröffnet, steht die enge Verwandtschaft außer Frage:
"die Wund- und Brandmale am lebendigen Körper des Volkes sind die gleichen, damals wie jetzt [...]". [29]
Die folgenden, von Seidel z.T. aufgelisteten Merkmale fordern fortan häufig zum Vergleich von Gegenwart und Vergangenheit heraus:
- Der Dreißigjährige Krieg besaß erstmals globalen Charakter; an ihm waren nahezu alle Staaten des Abendlandes beteiligt, und mit den Türken war auch der Orient einbezogen.
- Eine entwickelte Waffentechnik und der Einsatz von Massenheeren verlieh dem Kriegsgeschehen eine neue Dimension.
- Die Machthaber bedienten sich vielfach ideologischer Argumente zur Durchsetzung ihrer Interessen.
- Ideologische Intoleranz und terroristische Praktiken verteufelten die jeweils anderen und begünstigten eine Brutalität, die sich zunehmend verselbständigte und ein ganzes Volk für unabsehbare Zeit schädigte.
- Der eigentliche Kriegsschauplatz Deutschland war am Ende nicht nur weitgehend verwüstet, sondern auch der Besitzgier ausländischer Staaten ausgeliefert.
- Die Überfremdung drohte durch ausländische Mitbestimmung zu wachsen und verstärkte Ängste in bezug auf Sprache und Sitten.
- Durch den Frieden waren neue Konflikte vorprogrammiert, die die Furcht vor einem endgültigen Untergang steigerten.
Thomas Manns Absicht war es, mit dem Rückgriff auf die Zeit der Glaubensspaltung einen Mythos zu demontieren, den die Nationalsozialisten sich zu eigen gemacht hatten. Ihnen erschien Luther als der Inbegriff des Deutschen und der Dreißigjährige Krieg als eine Bewährung, weil er zur Befreiung von ausländischer "Unnatur" beitrug. Während der Arbeit am Roman las er den Simplicissimus, den er als typisches Zeugnis für die problematische Seelenverfassung der Deutschen ansah. Das unterscheidet ihn von anderen Autoren, die kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges bei der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit sich auf die simplicianischen Schriften stützten. Eine herausragende Rolle spielte Brechts aus aktuellen Befürchtungen und Erkenntnissen entstandenes Drama "Mutter Courage und ihre Kinder" (Uraufführung 1941). In ihm war ein Thema angesprochen worden, das Autoren intensiv beschäftigte. Es betraf das Handeln und mehr noch die Leiden des "kleinen Mannes", der sich den von Mächtigen und Fanatisierten angezettelten Geschehnissen ausgeliefert fühlt und anpaßt. Ernst Weiß stellt schon früh die historischen Parallelen her, als er Simplicissimus "den Schwejk des Dreißigjährig Krieg" nennt. [31] Danach bietet sich die Übernahme des Schelmenroman-Modells, das erstmals in Deutschland von Grimmelshausen eigenständig umgesetzt worden ist, geradezu an. Günter Grass bezeichnet deshalb den Autor des "Simplicissimus Teutsch" als den wahrhaft authentischen Berichterstatter des Dreißigjährigen Krieges, weil er "aus der Sicht der kleinen Leute, der Verlierer" dessen Schrecken in seiner ganzen Grausamkeit vor Augen führte. Mit Blick auf die traditionelle Historiographie spricht er vom "Lückenbüßer der Geschichte" und weist Dichtern allgemein diese Aufgabe zu. [32] In der "Blechtrommel" (1959) hat er auf die Wirren des 20. Jahrhunderts übertragen, was Grimmelshausen für seine Zeit geleistet hatte.
Diesem Rückgriff liegt eine Überzeugung zugrunde, die nicht bloß einzelne Affinitäten konstatiert, sondern eine mehr als dreihundert Jahre dauernde Kontinuität unterstellt:
"Gestern wird sein, was morgen gewesen ist. Unsere Geschichten von heute müssen sich nicht jetzt zugetragen haben. Diese fing vor mehr als dreihundert Jahren an. Andere Geschichten auch. So lang rührt jede Geschichte her, die in Deutschland handelt." [33] |
Damit beginnt "Das Treffen in Telgte" (1979), das die erste Zusammenkunft der Gruppe 47 in eine Dichterbegegnung von 1647 transformiert. Die entstandene zeitliche Verschiebung - die Gruppe traf sich 1947, also zwei Jahre nach Kriegsende - fällt indessen nicht ins Gewicht, gibt es doch zahlreiche Übereinstimmungen. Sie betreffen die Not im weitgehend verödeten Deutschland ebenso wie die Unsicherheit über den Fortbestand des Staatsgebildes, das Nachbarn mit Territorialforderungen bedrängen. Sie zeigen sich ferner deutlich im Schicksal von Einzelpersonen und in der Suche nach einem Selbstverständnis mit dem Ziel der Überwindung einer anscheinend irreparablen Misere. Wenn Grass Grimmelshausen besondere Aufmerksamkeit zuwendet, so liegt das nicht zuletzt an biographischen Gemeinsamkeiten; beide wurden durch Kriegsteilnahme an einem systematischen Bildungsgang gehindert und fanden erst nach Gelegenheitsarbeiten zum Dichterberuf. Ähnliche Lebensläufe begegnen bei anderen Gruppenmitgliedern, gerade auch bei Heimatvertriebenen bzw. Flüchtlingen. Opitz, der mehrmals die Fronten gewechselt hatte und im Danziger Asyl starb, genoß höchste Verehrung wegen seiner Bemühungen um die deutsche Sprache und Literatur.
Opitz' Ideal einer gereinigten allgemeinen Hochsprache aber war bedroht durch eine vom Krieg noch geförderte Sprachmengerei, die der nationalen Identitätssuche entgegenwirkte.
"[...] als nach neunundzwanzig Kriegsjahren der Frieden noch immer nicht ausgehandelt war, sollte zwischen Münster und Osnabrück das Treffen stattfinden, sei es, um dem zuletzt verbliebenen Band, der deutschen Hauptsprache, neuen Wert zu geben, sei es, um - wenn auch vom Rande her nur - ein politisches Wörtchen mitzureden [...] Wo alles wüst lag, glänzten einzig die Wörter." [34] |
Weil andere Völker seit langem eine Nationalliteratur besaßen, Deutschland aber kulturell zurücklag, sollten Sprachpflege und Adaptationen ausländischer Poesien das Manko überwinden helfen. Die Dichter unserer Nachkriegszeit konzentrierten sich auf die Reinigung der vom NS-Ungeist "verhunzten Sprache" und suchten so rasch wie möglich wieder Anschluß an eine Weltliteratur zu finden, der ihnen von Ideologen verwehrt worden war. So wirkten sie politisch in einem anderen Sinne, als sie es ursprünglich geplant hatten, und bei aller Skepsis in bezug auf unmittelbaren politischen Einfluß verstanden sie sich als Berufene, denen es oblag, der Hoffnungslosigkeit ein "Dennoch" entgegenzusetzen. [35]
Die Vorstellung von einer intellektuellen Elite, die miteinander kommuniziert, um in dunkler Zeit nach Auswegen zu suchen, findet sich schon bei anderen Autoren. So sind in Huchs Roman mehrfach Szenen eingeblendet, in denen bekannte Gelehrte und Poeten einander nach humanistischem Brauch begegnen, um irenische Gesinnungen zu pflegen und zu verbreiten. Sie erscheinen wie friedvolle Enklaven im mörderischen Umfeld, das auch sie stets bedroht. Oskar Loerke rühmt 1934 zu Beginn eines Lyrikbandes die "schicksalsverstoßenen Dichter" des Dreißigjährigen Krieges, deren er nicht anders als seiner toten Künstlerfreunde von der Tafelrunde gedenke, an der er selbst saß. Rist erhält höchstes Lob, weil er Leiden tapfer ertrug und in Friedensspielen den Verantwortlichen ins Gewissen redete. [36] In Grass' "Treffen" werden Passagen daraus zitiert. So drängt Rist auf die Niederschrift eines Friedensmanifests, das freilich am Dissens der Beteiligten scheitert und schließlich verbrennt. Die aus dem Trümmerhaufen herausragende Hand mit dem Federkiel, vom Autor entworfen, macht deutlich, daß ein Scheitern ihr Selbstverständnis nicht zu schmälern vermag. Im Kontext der von DDR-Funktionären geforderten positiven Zukunftsperspektive lagen Becher und Günther Deicke derartige Skrupel fern. In einer Gryphius-Anthologie mit dem programmatisch gemeinten Titel "Deutschland, es werden deine Mauern nicht mehr voll Jammer stehn" (1953) verkündet Deicke im Blick auf gelehrte Barockpoeten:
"In diesen schweren Zeiten mußten es wieder Männer bedeutenden Formats sein, die sich als echte Patrioten an die Spitze ihrer Zeit stellten, um jene Leistung zu vollbringen, die die agierenden Politiker nicht zu vollbringen vermochten, die Einheit Deutschlands wenigstens im Geistigen zu retten, dem deutschen Volk die Einheit seiner Sprache zu wahren." [37] |
Die Verschärfung der Ost-West-Spannungen machte Wunschvorstellungen oder Hoffnungen dieser Art rasch zunichte. Schriftsteller der beiden Teilstaaten waren zunehmend durch Ängste vor einer weiteren Eskalation und damit vor der Wiederkehr eines Krieges, der die Schrecken von sich über Jahrzehnte hinziehenden mörderischen Kämpfen durch eine rasche Auslöschung zumindest eines Teils der Menschheit zu ersetzen drohte, verbunden. Das erinnerte noch einmal an die religiös legitimierten Endzeitängste des Barock und war Anlaß zu verstärkter Identifikation mit Autoren jenes Zeitalters. [38]
Diese Tendenzen und Aspekte zeichnen sich in einer für die Verfilmung bestimmten Simplicissimus-Bearbeitung des bedeutenden DDR-Schriftstellers Franz Fühmann ab. Eine auch von anderen bevorzugte Passage, in der geschildert wird, wie Teile eines menschlichen Leichnams verzehrt werden, umrahmt die Haupthandlung und steht als Sinnbild für die Deformierung des Humanen durch den Krieg. [39] Das Drehbuch hält sich zwar an den Handlungsverlauf, weicht aber in vieler Hinsicht vom Original ab. Dazu gehört die Ausweitung des Blocksbergbesuches. Sie führt ungeschminkt die Macht der Trieb- und Wunschwelt des Menschen vor Augen, die sich in der Sexualität wie in der Völlerei, und besonders in der Lust am Quälen und Morden auslebt:
"Wallensteins Kürassiere sind keine Stümper: Nun, was sich jetzt abspielt, spielt sich ganz systematisch ab [...] (Man braucht nur Grimmelshausen genau zu lesen, um diesen Teamwork-Charakter wahrzunehmen.) Jeder der Reiter wird nicht nur als Spezialist beim Zerstören, sondern auch beim Foltern und Erpressen gezeigt." [40] |
Der planvoll-systematisch ausgeübte Sadismus bezeugt eine Kooperation von Trieb und Verstand, die offensichtlich das animal rationale kennzeichnet. Daß der Mensch diese Konstellation nur schwer und in vielen Fällen nicht mehr zu steuern vermag, wird durch zahlreiche Aktionen und Reaktionen erhellt. Außerdem besteht für Fühmann ein enger Zusammenhang zwischen wissenschaftlichem Fortschritt und wachsenden humanen Defiziten, eine Entwicklung, die seiner Meinung nach in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges wesentliche Impulse erhielt. Unter diesen Voraussetzungen gibt er einer dauerhaften Befriedung keine Chance.
Zweifel an möglichen Veränderungen mit dem Ziel einer humaneren Welt äußert die überwiegende Zahl von modernen Autoren, gerade auch mit Blick auf die Nachwirkung dessen, was in der frühen Neuzeit erste erschreckende Konturen erhielt. Als Resultat des großen Krieges konstatiert Döblin schon 1919:
"der Servilismus dehnte sich aus, überschattete das große, einst freie [...] Land, die Knechtsnatur wurde den Deutschen mit grausamem, langwirkendem Stempel aufgedrückt, die später alle seine Gedanken, Gedichte, Entdeckungen schwach und wertlos machte, weil die Taten ärmlich und erbärmlich blieben." [41] |
1980 bezeichnet Günter Kunert die Gegenwart als "Fortsetzung des Dreißigjährigen Krieges mit anderen Mitteln." [42]
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