I. DIE KRISE IN EUROPA UM 1600 |
Der Prager Fenstersturz war mehr als nur der Beginn eines Dreißigjährigen Krieges; er ist auch Symptom der Krise, die eine ganze Kette von Kriegen auslöste. In Böhmen rebellierten calvinistische Adelige gegen ihren katholischen König - der seit dem Mittelalter schwelende Konflikt zwischen Fürst und Ständen verschärfte sich durch den unlösbaren konfessionellen Gegensatz. In den Niederlanden brachte seit 1572 der Aufstand gegen Spanien, die bedeutendste damalige Militärmacht, die Sicherung politischer und konfessioneller Freiheiten. 1609 hatte ein Waffenstillstand den Kampf ausgesetzt, allerdings seine Befristung auf zwölf Jahre den nächsten Waffengang auch beinahe vorprogrammiert. Wenige Jahre zuvor war in Frankreich 1598 durch das Edikt von Nantes ein fast dreißigjähriger Bürgerkrieg mit der Selbstbehauptung der Hugenotten beendet worden.
Die Konfessionsfrage stellte unerbittlich die Machtfrage - und dies nicht nur in Böhmen, sondern auch in Frankreich und in den Niederlanden, in England, in Polen, in Schweden. Sie verschränkte sich mit latenten zwischenstaatlichen Rivalitäten wie zwischen Spanien und Frankreich und zwischen Dänemark und Schweden; mit dynastischem Zwist wie zwischen Polen und Schweden; schließlich mit wirtschaftlicher Konkurrenz, etwa im Überseehandel. Und die Konfessionsfrage duldete kein "sowohl - als auch" mehr; sie war unlösbar, ging es doch um das Heil, die religiöse Wahrheit. Der Streit lähmte in Deutschland die Reichsorgane, denen die Friedenswahrung aufgegeben war: Reichstag und Reichsgerichte. Ein weiteres: Jeder einzelne Mensch hatte sich zu entscheiden. Das war Katalog und Ziel der Reformation gewesen; die Unmittelbarkeit des Individuums zu Gott. Daher kämpften die Parteien um jeden einzelnen, um Fürsten, Adelige, Bürger, Bauern und Soldaten, in aller Öffentlichkeit durch Flugschriften und Flugblätter. Wie schon die Reformation war der Dreißigjährige Krieg ein "Medienereignis"; (J. Burkhardt).
Die Menschen spürten die Krise, empfanden sie als ausweglos. In ihren konfessionellen Überzeugungen gefangen, drückten sie ihre Hilflosigkeit in religiösen Deutungsmustern aus: in apokalyptischen Erwartungen als Strafe Gottes. Und es entstanden Friedensmahnungen und Lösungsvorschläge - Symptome einer strukturellen "Friedensfähigkeit Europas" (H. Schilling), die ebenso aus weltlich-humanistischen wie religiös-theologischen Traditionen, aber auch aus einem tief eingewurzelten Rechtsdenken und Rechtsbewußtsein resultierte. Die Konfessionen sollten dem christlichen Friedensgebot folgen, der Monarch den innerstaatlichen Frieden mit einem Gewaltmonopol herstellen und Träger der "Souveränität" werden, der Kaiser als Universalherrscher Frieden und Recht garantieren, die Einigkeit der Christen sollte den Kampf gegen die Ungläubigen, die Türken ermöglichen.
Die Konfessionsfrage erzwang so die politische Entscheidung, wer im frühmodernen Staat Europas regierte und wie dieser Staat organisiert sein sollte. Man hat den Dreißigjährigen Krieg daher ebenso wie die Auseinandersetzungen in Frankreich und in den Niederlanden, auch in England, als "Staatsbildungskrieg" bezeichnet, ein Symptom der "Krise des 17. Jahrhunderts". Zugleich entbrannte ein Kampf um die Führungsrolle unter den europäischen Monarchen, den der Kaiser und der König von Spanien, der König von Frankreich und der König von Schweden in jeweils universal angelegten Herrschaftsideologien zu rechtfertigen suchten.
G. D. / A. F.
Lit. Burkhardt 1992, S. 9-143, 225-232; vgl. auch die Beiträge von Burkhardt und Schilling in Bd. I dieses Kataloges.