FRANZ-JOSEF JAKOBI Westphaliae Metropolis Monasterium Topographie und Gesellschaft Münsters im konfessionellen Zeitalter |
I. Einleitung
Westphalae gentis decus, aura, splendor,
Civitas Paulo celebris patrono,
Notior Delphis, variis Athenas
Artibus aequat!
[...]
Eminent turres nimium levatae,
Sunt domus altae, speciosa lucent
Templa; et obscurae decorata cingunt
Moenia fossae.
[...]
Et viros doctos veneratur omnis
Civitas, quorum ingeniis abundat
Ceteras longe superatque nostri
Climatis oras.
[...]
Gedicht auf die Stadt Münster, die Hauptstadt Westfalens
Zierde und strahlender Glanz westfälischen Landes
Stehst du, herrliche Stadt, im Schutze des Paulus!
Mehr als Delphi gerühmt, als Stätte der Künste
Gleichst du Athen selbst!
[...]
Stolze, mächtige Türme ragen zum Himmel,
Hohe, stattliche Häuser und prachtvolle Kirchen
Schmücken die Stadt, und dunkle Gewässer umspülen
Ringsum die Mauern.
[...]
Hochangesehn in der ganzen Stadt sind die Männer,
Die der Wissenschaft dienen; so viele Gelehrte
Hat keine Stadt wie diese, den Ruhm macht ihr keine
Andere streitig.
[...]
So portraitierte am Ausgang des Mittelalters der aus den Niederlanden stammende Gelehrte Johannes Murmellius die alte Bischofs- und Hansestadt Münster, in der er 13 Jahre lang (1500-1513) als stellvertretender Rektor der Domschule bzw. als Leiter der Stiftsschulen von St. Martini und St. Ludgeri für die humanistische Bildungsreform tätig war. Die Verse gehören zu der 50 "sapphische" Strophen umfassenden Ode "in urbem Monasteriensem Westphaliae Metropolim", in der Murmellius in Form des traditionellen "Städtelobs" die äußere Stadtgestalt der "Hauptstadt Westfalens" und ihre Stadtgesellschaft als Heimstatt der Künste und der Wissenschaften überschwenglich preist. [1]
Das Werk, in dem unter anderem auch der gesamte Gelehrtenkreis um Rudolf von Langen vorgestellt wird, dem Murmellius selbst angehörte, hat eine interessante und aufschlußreiche Entstehungsgeschichte: Der Autor hat es - wie der Titelzusatz der zeitgenössischen Ausgaben verrät - aufgrund einer Wette mit dem als Gast bei ihm in Münster weilenden Kölner Rhetorik-Professor Georg Sibutius an einem Tage, und zwar am 4. Juli 1503, verfaßt. [2] Auch wenn es deshalb eher als Ausweis humanistischer Gelehrsamkeit anzusehen ist denn als realistisches Stadtportrait, wird daran doch deutlich, daß Münster zu Beginn des konfessionellen Zeitalters ein geistiges Zentrum im Nordwesten des Reiches und eine Stadt von überregionaler Bedeutung und Ausstrahlung war. Daß das - trotz der Errichtung und des blutigen Endes der Täuferherrschaft in den Jahren 1534 und 1535, durch die die Stadt und ihre künstlerische Ausstattung stark in Mitleidenschaft gezogen wurde [3] - während des gesamten 16. und in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts so blieb, wird durch eine außerordentlich reichhaltige Überlieferung belegt. [4] Davon sollen im Folgenden einige Komplexe exemplarisch betrachtet werden, um daran vor allem deutlich werden zu lassen, von welchen Voraussetzungen her Münster in der letzten, verheerendsten Phase des Dreißigjährigen Krieges als Haupttagungsort für die Verhandlungen zur Beendigung der Auseinandersetzungen überhaupt in Betracht kommen konnte, und wie es einer Stadt dieser Größenordnung, mit ca. 10.500 Einwohnern [5], möglich war, mehrere Jahre lang für annähernd 150 Gesandtschaften aus fast allen deutschen und europäischen Ländern, d.h. für mehrere tausend Personen verschiedenster Nationalität und Konfession [6] die Gastgeberrolle zu übernehmen.
II. Topographie
Fast gleichzeitig mit diesem historiographischen Produkt humanistischer Gelehrsamkeit, in dem unter anderem der Ursprung der Stadt mit Hilfe etymologischer Deutungen des ursprünglichen Städtenamens Mimigernaford unter Rückgriff auf ältere Darstellungen in die germanische Frühzeit zurückverlegt wird [8], entstand ein erstes zeichnerisches Stadtportrait in Form einer in Kupfer gestochenen Stadtansicht. Remigius Hogenberg fertigte es nach einer von Hermann tom Ring gezeichneten Vorlage im Jahre 1570. Auch dieses Stadtportrait, das neben einer Widmung an den Baseler Arzt und Humanisten Leonhard Thurneysser eine Kurzfassung der bei Kerssenbrock formulierten Gründungslegende enthält, ist mit seiner überraschenden Präzision und Detailgenauigkeit ein Zeugnis der neuen wissenschaftlichen Ambitionen des 16. Jahrhunderts. [9]
In Münster setzte sich diese Tradition bis in die Hochphase des Dreißigjährigen Krieges fort. Mit dem Vogelschauplan des Everhard Alerdinck, der auf einer präzisen topographischen Aufnahme der Stadt beruht, bringt sie im Jahre 1636 ein neues Spitzenzeugnis hervor. Die Maßstabgerechtigkeit, mit der Straßenzüge und Grundstücksparzellierungen sowie Lage und Gestalt der Gebäude wiedergegeben sind, verblüfft noch heute und kann als Grundlage für stadtarchäologische Untersuchungen dienen. [10]
II.1. Hermann von Kerssenbrocks Beschreibung der äußeren Stadtgestalt
Nach der Beschreibung dieses die Stadt wie ein undurchdringlicher Panzer umschließenden Befestigungssystems wendet sich Kerssenbrock dem Stadtinneren zu. Er beginnt mit den Kirchen und Klöstern. [13] An erster Stelle steht der Dom, der mit der ihn umgebenden Dom-Immunität die Mitte der Stadt bildet.
Das Bild der äußeren Stadtgestalt wird schließlich durch die Kurzportraits der öffentlichen Plätze und Gebäude komplettiert [14], "damit die Nachwelt erkenne, daß in dieser unserer Stadt alles im Überfluß zur Verfügung steht, was notwendig ist, wie auch das, was zur Zierde und zum Vergnügen gereicht [...], woran man die Bedeutung und die Größe unseres Gemeinwesens leicht ermessen kann", wie Kerssenbrock nicht ohne Stolz bemerkt. [15]
Das von Kerssenbrock gezeichnete Bild der Stadt wird schließlich durch allgemeine Ausführungen über die Straßenzüge mit den Häuserfronten, die Ausstattung der Privathäuser sowie die Abfall- und Wasserentsorgung abgerundet. Der Autor beginnt erneut mit einem voller Stolz vorgetragenen Lob auf seine Heimatstadt auch in dieser Hinsicht: "Was soll ich weiter mit vielen Worten ausführen, wie groß der Reichtum und Glanz der öffentlichen Plätze und der Privathäuser dieser Stadt ist, da doch klar ist, daß sie sowohl darin als auch in anderem Schmuck allen anderen westphälischen Städten überlegen ist." [ 16]
II.2. Die bildliche Darstellung der Stadt durch Hermann tom Ring / Remigius Hogenberg und Everhard Alerdinck
Wie um die ausführliche Beschreibung Kerssenbrocks bildhaft zu veranschaulichen, hat fast gleichzeitig der bedeutendste Künstler Münsters im 16. Jahrhundert, Hermann tom Ring, ein detailgetreues "conterfey" seiner Vaterstadt gezeichnet, das der aus Köln stammende Kupferstecher Remigius Hogenberg im Druck verbreitet hat. Die Silhouette der Stadt mit dem wehrhaften Befestigungssystem der Gräben, Mauern und Bastionen, mit den hochaufragenden Türmen und Giebeln der Kirchen und Profanbauten ist zu einem imponierenden Bild unter der Überschrift "Monasterium Westphaliae Metropolis" zusammengefügt. [17]
Kunstvoll ist der Stich außerdem mit drei Texte darbietenden Kartuschen und drei Wappen verziert. Die Wappen des Fürstbistums und der Stadt Münster rahmen das Doppeladlerwappen des Reiches ein, sicher eine Anspielung auf Münsters Selbstverständnis als Bischofs- und als autonome Bürgerstadt. Die Kartusche im Vordergrund trägt den Widmungstext für Leonhard Thurneysser und den Namen des Künstlers sowie das Datum 12. Mai 1570. Die beiden über der Stadtsilhouette neben den drei Wappen schwebenden Kartuschen enthalten kurzgefaßte geschichtliche Rückblicke auf die Stadtentstehung und die Stadtgeschichte in lateinischer und deutscher Sprache in enger Anlehnung an Kerssenbrocks Darstellung. Es ist anzunehmen, daß dem Autor Kerssenbrocks Werk bekannt war oder sogar Kerssenbrock selbst der Autor war. [18]
Zu dieser Seitenansicht von Süden und Westen, die die Topographie natürlich nur perspektivisch und sehr bedingt deutlich werden läßt [19], gesellt sich gut 70 Jahre später, also mitten im Dreißigjährigen Krieg, ein weiteres Meisterwerk aus der Verbindung zweier Disziplinen: der 1636 gedruckte, ebenfalls die Überschrift "Monasterium Westphaliae Metropolis" tragende Vogelschau-Plan des Everhard Alerdinck. Dem Plan liegt eine genaue Vermessung der Stadt im Jahre 1634 zugrunde, wie ein Chronogramm am unteren Bildrand ausweist. [20] (Abb. 1)
Anders als das auch künstlerisch bedeutsame "conterfey" Münsters in der Tradition der Bildnis-Malerei ist der Stadtgrundriß Alerdincks ein erstrangiges Zeugnis für eine andere die Zeit kennzeichnende Disziplin: die Geometrie und Kartographie. Beide Werke vergleichend, stellt Geisberg fest: "Ist der Stich des Remigius Hogenberg die künstlerisch wertvollste Darstellung unserer Stadt, die wir besitzen, so wird er von der Radierung Alerdincks bei weitem durch die Fülle der dargestellten Einzelheiten und die große Anschaulichkeit übertroffen; wohl wenige Städte werden sich einer gleich genauen Darstellung rühmen können." [21] Alerdinck selbst, der sein Werk als Verbindung von Mathematik und Malerei bezeichnet, nennt als Zweck seiner Bemühungen, die Stadt in einer neuen Form der Darstellung abzubilden, "warein alle dieser statt qualiteten von haus zue haus, von strassen zu strassen mit allen ihren circumferentzen proprieteten, an iezto zu finden, ad oculum quasi et ad lineam zu sehen sein". [22] Um dieses Ziel zu erreichen, hat er das bei dem bekannten Kartographen Johann Gigas Erlernte mit Hilfe des Ingenieurs Nikolaus Knickenberg präzise umgesetzt und auf den maßstabgetreu aufgenommenen Grundriß der Stadt die Gebäude und Häuserblocks eingezeichnet. [23]
Die Darstellung wirkt wie eine Bestätigung der Beschreibung Kerssenbrocks und läßt ein sehr anschauliches Bild von Stadtgestalt und Stadtraum Münsters im konfessionellen Zeitalter entstehen.
III. Gesellschaft
Wiederum ist es Hermann von Kerssenbrock, der uns als kundiger zeitgenössischer Beobachter eine sehr konkrete Vorstellung von der in Stände und Schichten gegliederten, etwa 10.500 Köpfe zählenden Einwohnerschaft Münsters zwischen dem Täuferreich und dem Dreißigjährigen Krieg vermittelt. [24]
Diese Stadtgesellschaft ist im wesentlichen geprägt durch eine selbstbewußte Bürgerschaft, die sich etwa in der Ratskammer und im Amtshaus der Kramergilde ihre Repräsentationsarchitektur von künstlerischem Rang zu schaffen wußte. [25] Während und unmittelbar nach dem Friedenskongreß konnte sie in den Auseinandersetzungen um die Niederlassung der Lotharinger Chorfrauen zum letzten Mal ihre seit dem Mittelalter gegen den bischöflichen Stadtherrn erkämpften Autonomierechte geltend machen. [26 ] In ihren Repräsentanten wie z.B. Hermann tom Ring [27] und Bernhard Rottendorff [28] hatte sie Anteil am europäischen Geistesleben des Humanismus und der Kunst der Renaissance.
Es war diese Stadtgesellschaft, die die Gastgeberfunktion für den europäischen Friedenskongreß übernehmen konnte. In ihr waren die konfessionellen Gegensätze nach der Katastrophe des Täuferreiches während der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zunächst weitgehend ausgeglichen worden; nach dem Machtantritt der Wittelsbacher Fürstbischöfe wurden sie dann in einem allmählichen Verdrängungsprozeß der Protestanten im Zuge der Rekatholisierung der Stadt relativ unspektakulär beigelegt. [29]
III.1. Hermann von Kerssenbrocks Beschreibung der Einwohnerschaft
Bevor er zur Beschreibung des weltlichen Standes und der politischen Funktionen in der Bürgerschaft übergeht, erwähnt Kerssenbrock noch eine weitere Personengruppe, deren Mitglieder nicht dem Bürgerrecht unterworfen sind: den Adel bzw. Ritterstand (ordo equester). Adelige haben zwar ihre Wohnhöfe in der Stadt, leben aber eigentlich nach je eigenem Recht als einzelne außerhalb der Stadt auf ihren befestigten Landsitzen, sind also nicht zur Stadtgesellschaft zu zählen.
Den Laienstand sieht Kerssenbrock wie den Klerus zweigeteilt: in den Ordo der Patizier und den der Plebejer. Beide bringen aus sich heraus einen dritten hervor: den der Ratsherren (senatorium ordinem), dem die gesamten politischen Leitungsfunktionen übertragen sind. Diese Gruppe der Amtsträger setzt sich aus Mitgliedern beider bürgerlichen Schichten zusammen, stellt also eine Funktionselite dar, die nach persönlichem Ansehen und Vermögen politische Macht per Mandat der Mitbürger in einem komplizierten Wahlverfahren übertragen erhält.
Dem "plebejus ordo" zählt Kerssenbrock alle übrigen Stadtbewohner, freie wie unfreie, zu. Er weist noch ein besonderes Strukturmoment auf, das nicht, wie die bisherigen, sozusagen eine vertikale Schichtung ergibt, sondern eine horizontale Aufteilung in Sektoren: die Zunftordnung, durch die außerdem verbindliche Rahmenbedingungen des gewerblichen und wirtschaftlichen Lebens für die Kaufleute und Handwerker festgelegt werden. Kerssenbrock zählt die 17 zu seiner Zeit bereits "Ämter" (curiae) genannten Gilden auf, die einen besonderen, vom Rat anerkannten Rechtsstatus mit einer in einer "Gilderolle" schriftlich fixierten Verfassung haben und denen jeweils zwei gewählte "Gildemeister" vorstehen. [31]
Kerssenbrock liefert insgesamt eine recht präzise und vollständige Beschreibung der Stadtbevölkerung, bei der lediglich die außerhalb der ständischen und sozialen Ordnungen lebenden Angehörigen des "fahrenden Volkes" fehlen. Zahlenangaben allerdings, sowohl absolute als auch solche über die Verhältnisse der Bevölkerungsgruppen zueinander, liefert er nicht. Sie lassen sich jedoch aus den zeitgenössischen Schatzungsregistern, in denen die Steuerpflichtigen aufgeführt sind und die für das 17. und 18. Jahrhundert weitgehend vollständig erhalten sind, indirekt gewinnen. Die zentrale Einheit, die bei der Erfassung der Steuerpflichtigen zugrunde lag, war weder die Einzelperson noch die Familie, sondern der Haushalt, für den jeweils der Vorstand verantwortlich war. Zählt man den gesamten Klerus und die Insassen der Armenhäuser, Spitäler und Stiftungen sowie die "Aftermieter", die keinen selbständigen Haushalt führten, nicht mit - insgesamt dürften das ca. 1.500 Personen gewesen sein -, so ergeben sich nach den Berechnungen von Franz Lethmate für Münster um 1600 gut 2.200 solcher Haushalte mit ca. 9.150 Personen. [32]
Diese rund 9.150 den bürgerlichen Haushalten zuzurechnenden Personen, die in den Schatzungsregistern statistisch erfaßbar sind, verteilten sich ziemlich regelmäßig über die Stadt und ihre Wohnviertel. Für die Wahrnehmung der politischen Autonomierechte, insbesondere des komplizierten Wahlverfahrens für die Ratsmitglieder, war die Stadt in sechs - in Münster "Leischaften" genannte - Stadtbezirke aufgeteilt. Die Grenzziehung der Leischaften entsprach weitgehend der der fünf großen Pfarreien - der kleinen von St. Servatii war keine Leischaft zugeordnet -, wobei die große, das gesamte Gebiet westlich der Aa umfassende Überwasser-Pfarrei in zwei Leischaften aufgeteilt war. [33] (Abb. 3)
III.2. Ratskammer und Krameramtshaus als Repräsentationsarchitektur der Bürgerschaft
Die Umgestaltung der Ratskammer erfolgte im Zusammenhang umfassenderer baulicher Veränderungen des gesamten Rathauskomplexes. Bis zum Jahre 1576 war die im Mittelalter zunächst als Fachwerkbau ausgeführte "domus civium" mit der "Bürgerhalle" und dem Schaugiebel am Prinzipalmarkt baulich von dem dahinter liegenden "Steinwerk" mit der Ratskammer im Erd- und der Rüstkammer im Obergeschoß getrennt. Jetzt wurden beide unter einem neuen Dach zu einem Gebäude zusammengefaßt, und dieses wurde mit einer neuen rückwärtigen Giebelwand versehen. Das Rathaus erhielt so jene äußere Gestalt, die bis zur Zerstörung im Zweiten Weltkrieg Bestand hatte und die in den 1950er Jahren wiederhergestellt wurde. Für die Ratskammer entstand durch die Baumaßnahme von 1576/77 eine neue östliche Seitenwand mit vier großen Fenstern, deren Gestaltung Teil der Neugestaltung des gesamten Innenraumes wurde. [35]
Das Konzept für diesen Entwurf ist - nach einer von Max Geisberg zuerst vorgenommenen Zuschreibung - aller Wahrscheinlichkeit nach unter Mitwirkung Hermann tom Rings entstanden. [36] Sie erfolgte ganz im Zeichen der Funktion des Raumes als Versammlungsort des Rates und als zentraler Ort der städtischen Gerichtsbarkeit. Diese war neben der Wehrhoheit und den Markt- und Handelsprivilegien seit dem Mittelalter das wichtigste Element der Stadtverfassung und Kernstück der bürgerlichen Autonomie. [37]
Am 12. November 1589 konnte die Kramergilde mit ihren Gildemeistern Arnold von Guelich und Johann Rall an der Spitze ihr neues Amtshaus in Besitz nehmen. Mit einem viertägigen Jahresfest, dem "Gildezech", an dem 82 Mitglieder und 24 Witwen der verstorbenen Meister teilnahmen, wurde es festlich eröffnet. [38] Wie der Alerdinck-Plan ausweist, war es größer, und es war auch repräsentativer ausgestattet als das 1525 errichtete Haus der Gesamtgilde, das "Schohaus" auf dem alten Fischmarkt. Es ist deshalb nicht verwunderlich, daß die achtköpfige Gesandtschaft der niederländischen Generalstaaten beim Friedenskongreß hier in den Jahren 1646 bis 1648 Quartier nahm. Hier wurde also der Frieden zwischen Spanien und den Niederlanden ausgehandelt. [39] Wie sehr sich die Kaufleute Münsters in der Nachfolge der Kramergilde mit dem Haus als sichtbarer Dokumentation ihres hansischen Traditionsbewußtseins und Selbstverständnisses über die Jahrhunderte identifizierten, zeigt sich unter anderem daran, daß sie es nach der Auflösung der Zunftordnung und Konfiskation ihres Vermögens während der napoleonischen Zeit in den 1820er Jahren vom preußischen Staat zurückkauften und zum Domizil des 1835 neugegründeten "Vereins der Kaufmannschaft" machten. Später ging es dann in den Besitz der Stadt Münster über, die es für verschiedene öffentliche Zwecke und zuletzt - bis 1993 - als Hauptgebäude der Stadtbücherei nutzte. [40] Als es dann der Westfälischen Wilhelms-Universität für die Gründung des "Niederlande-Zentrums" übergeben wurde, verlegte der Verein der Kaufmannschaft im Einvernehmen mit allen Beteiligten und in Erinnerung an die alte Tradition seine Geschäftsstelle wieder in das Krameramtshaus zurück.
III.3. Die Auseinandersetzungen um die Niederlassung der "Lotharinger Chorfrauen" (1643-1655) - Manifestation des Ringens um die städtischen Autonomierechte
Die durch die kriegerischen Ereignisse Anfang der 1640er Jahre aus Lothringen vertriebenen Augustinerinnen der Congregatio Beatae Mariae Virginis waren über Trier und Köln auf der Suche nach günstigen Bedingungen für ihre Betätigung als Schulorden nach Münster gekommen. In der rekatholisierten Stadt - der von Kriegshandlungen verschonten Stadt des Friedenskongresses -, in der sie wohl schon im Laufe des Jahres 1643 im Gefolge ihres Protektors Graf Nassau eingetroffen waren, hofften sie sie zu finden. Offenbar bot sich ihnen jedoch erst nach dem Ende der schwierigen Verhandlungen und dem Abschluß des Westfälischen Friedens am 24. Oktober 1648 Gelegenheit, ihre Gönner unter den Gesandten und die städtischen Entscheidungsgremien mit ihrem Anliegen zu befassen.
Nach ausführlicher Beratung rang sich der Rat in einer Sitzung am 25. Februar 1649 [42 ] zu einem Beschluß durch, der zwar in der Tendenz positiv, aber mit hohen Auflagen verbunden war und unter einen gravierenden Vorbehalt gestellt wurde. Nur mit Rücksicht auf die hochgestellten Intervenienten - nämlich die Mediatoren Fabio Chigi und Alvise Contarini - und obwohl die Bürgerschaft bereits über Gebühr durch Geistliche und Ordensleute belastet sei - so heißt es im Ratsprotokoll -, stellte der Rat die Niederlassungsgenehmigung und die Befreiung von den bürgerlichen Pflichten in Aussicht; allerdings verlangte er eine mit päpstlicher Autorität zu sanktionierende vertragliche Festlegung auf erhebliche Einschränkungen und machte außerdem seinen Beschluß von der Zustimmung der Gesamtgilde abhängig.
Entsprechend den in der Stadtverfassung festgelegten Verfahrensregeln berieten die Gildeführer auf einer Vollversammlung über die Angelegenheit. Sie lehnten den Ratsbeschluß rundweg ab und gingen in ihrer Beschlußfassung sogar noch darüber hinaus: Die Lotharinger Chorfrauen - so argumentierten sie - gehörten nach ihrer Selbstbezeichnung dem Augustinerorden an, und das gebe zu der Besorgnis Anlaß, daß den weiblichen bald männliche Ordensangehörige folgen würden; durch die Unterrichtung der städtischen und nichtstädtischen Jugend würden die Schwestern außerdem Ordensnachwuchs gewinnen, und es würde bald ein richtiges Kloster entstehen; für diese Entwicklung gäbe es genügend negative Beispiele in jüngster Vergangenheit; den Schwestern sei deshalb nicht nur die gewünschte Niederlassung und Abgabenbefreiung zu verwehren, sondern ihnen sei binnen kürzester Frist das Aufenthaltsrecht in der Stadt zu entziehen. [43]
Der Rat geriet durch dieses massive Votum in eine schwierige Situation, zumal sich auch Graf Nassau inzwischen als Intervenient eingeschaltet hatte. Er, der Rat, mußte den hohen Repräsentanten des Papstes und des Kaisers die Ablehnung ihres Begehrens mitteilen und sich dadurch außerdem in eine Konfrontation mit dem Landesherrn bringen, der die Niederlassung durch ein in Bonn ausgestelltes Mandat bereits 1647 genehmigt hatte. [44] Wie nicht anders zu erwarten, gaben sich die Intervenienten mit dem ablehnenden Bescheid nicht so ohne weiteres zufrieden. Die Angelegenheit zog sich den ganzen Sommer und Herbst des Jahres 1649 ohne Veränderung der kontroversen Positionen weiter hin.
An dem Verfahren ist zweierlei bemerkenswert: zum einen der immer wieder erneuerte Hinweis der Gilden auf die schlechten Erfahrungen mit den jüngst vergangenen Ordensniederlassungen in der Stadt; zum zweiten die Möglichkeiten der Mitbestimmung in städtischen Angelegenheiten, die dieser Standesorganisation der Kaufleute und Handwerker zur Verfügung standen und die sie in die Lage versetzten, selbst der geballten Macht des Landesherrn, den Voten des Rates und der mächtigen Intervenienten zu trotzen.
Die Erklärung dafür ist im veränderten Rechtsstatus der Stadt - konkret gesprochen im geänderten Verhältnis zwischen Stadt und Landesherrn - zu suchen. Mit der Neutralitätserklärung zu Beginn des Friedenskongresses [45] hatte Münster auf Zeit faktisch den Status einer freien Reichsstadt erhalten. Damit waren aber die Entscheidungs- und Selbstbestimmungsrechte der Stadtverfassung uneingeschränkt wieder in Funktion gesetzt, die durch den bischöflichen Landesherrn und das Domkapitel in den vorhergehenden Jahrzehnten Zug um Zug eingeschränkt worden waren. Diese aus der mittelalterlichen Blütezeit der Hansestadt Münster herrührende, nicht-codifizierte Stadtverfassung sah ein Mitbestimmungsrecht der Gilden durch ihre Sprecher bei allen Ratsbeschlüssen und gegebenenfalls das Votum der Gesamtversammlung aller Bürger, der "Gemeinheit", in den wichtigsten städtischen Entscheidungen vor; die Sprecher der Gilden hatten ein Vetorecht gegen Beschlüsse des Rates. [46] Konsequenterweise hatten sie denn auch schon im Jahre 1642 den Dominikanern, die bereits seit dem Mittelalter in der Stadt weilten, den Bau eines neuen Klosters verweigert. [47]
In diese Situation also waren die Lotharinger Chorfrauen wohl unwissentlich geraten, als sie sich - sozusagen als Kriegsflüchtlinge - aus dem vom Dreißigjährigen Krieg verheerten Lothringen aufmachten, um nach einer neuen Bleibe zu suchen. In der Hoffnung auf günstige Bedingungen und auf hohe Protektion hatten sie sich über Trier und Köln in die katholische Kongreßstadt Münster begeben. Hier jedoch stießen sie von Anfang an auf den jetzt auch politisch durchsetzbaren Widerstand der Gilden, der selbst durch die gemeinsamen Bemühungen der Repräsentanten von Kaiser und Papst nicht überwunden werden konnte.
III.4. Gildebürger, Künstler und Gelehrte als Repräsentanten der bürgerlichen Stadtgesellschaft
Zwar waren ihre Repräsentanten zur Zeit des Friedenskongresses durch die jesuitische Schulung der Schola Paulina gegangen, aber sie lebten und agierten in der Mehrzahl eher im Geist des Humanismus und der republikanischen Stadtkultur als dem der Gegenreformation und der höfischen Barockkultur. Zu ihnen gehörten der Domschulrektor und Geschichtsschreiber Hermann von Kerssenbrock, der der Stadt und ihrer Einwohnerschaft ein literarisches Denkmal setzte, ebenso wie die Gildemeister der Kramergilde, die den Neubau ihres Amtshauses verantworteten; zu ihnen gehörten ebenso die Gildemeister und Verantwortlichen auf dem Schohaus, die gegen weitere Ordensniederlassungen in Münster, die Abwanderung von Immobilien in die "tote Hand" und die Befreiung weiterer Häuser und Grundstücke von den bürgerlichen Lasten energisch Front machten, wie der Gildemeister Everhard Alerdinck, der eine topographische Aufnahme der Stadt durchführte und als Kartenwerk zum Druck beförderte.
An je einem Angehörigen der Generationen vor und nach 1600 lassen sich Geist und Habitus der bürgerlichen Stadtgesellschaft der "Metropolis Westphaliae" exemplarisch verdeutlichen: an dem schon mehrfach erwähnten Maler und Gildemeister Hermann tom Ring (1521-1596) und an dem Stadtarzt und Ratsherrn, Dichter und Gelehrten Bernhard Rottendorff (1594-1671).
Hermann tom Ring repräsentiert die mittlere Generation der berühmten Malerfamlie. [49] Er kam am 2. Januar 1521 als ältester Sohn des nach Münster zugewanderten und bald als Meister in die Malergilde aufgenommenen Ludger tom Ring d.Ä. zur Welt. Er besuchte die gerade zum humanistischen Gymnasium umgewandelte Schola Paulina, trat dann in die Werkstatt seines Vaters ein und nach dessen Tod im Jahre 1547 seine Nachfolge an. Bereits 1556 wurde er zweiter Gildemeister, von 1569 bis zu seinem Tod erster Gildemeister der Maler. Er blieb sein Leben lang in der Stadt, in der er als Jugendlicher die Täuferzeit miterlebt hatte, und entfaltete hier ein reiches Wirken auf vielen alten und neuen Gebieten der Künste und Gelehrsamkeit. Neben der Portrait- und Kirchenmalerei sind hier etwa die Buchillustration, die Kartographie, die Architektur und sogar die Astronomie zu nennen. Er stand mit Künstlern und Gelehrten innerhalb und außerhalb Münsters in regem Austausch. Zur Gestaltung und Ausstattung kirchlicher, öffentlicher und privater Bauwerke und Häuser seiner Vaterstadt trug er nach Kräften bei. Für die Gildebürgerschaft und ihre rechtsförmige Organisation engagierte er sich in besonderer Weise, indem er eigenhändig eine Abschrift des während der Täuferwirren in Mitleidenschaft gezogenen Statutenbuchs der Gesamtgilde verfertigte und so dafür sorgte, daß deren verbriefte Autonomie- und Mitwirkungsrechte am Verfassungsleben der Stadt auch weiterhin in allen Einzelheiten nachgewiesen werden konnten. [50] Von seinem Selbstbewußtsein und Selbstverständnis zeugt die in zwei überdimensionalen Tafelbildern für die lebenden und verstorbenen Mitglieder seiner Familie in ihrer Pfarrkirche St. Marien Überwasser ganz im Stile adeliger Vorbilder errichtete Familien-Memoria. [51] Das künstlerische Denkmal, das er seiner Vaterstadt setzte, ist die ausführlich besprochene Stadtansicht, die Remigius Hogenberg in Kupfer gestochen und dem gemeinsamen Freund Leonhard Thurneysser gewidmet hat. Zu Recht charakterisiert ihn Paul Pieper als einen "homo universalis" der Renaissance. [52]
Dr. Bernhard Rottendorff gehörte wie Hermann tom Ring der münsterischen Bürgerschaft in zweiter Generation an. Wie dieser blieb er seiner Vaterstadt bis zu seinem Tode treu, diente ihr in vielen öffentlichen Ämtern und Funktionen und verbreitete durch seine Gelehrsamkeit und ärztliche Kunst seinen und ihren Ruhm weit über die Grenzen der Region hinaus. Nach dem Urteil Helmut Lahrkamps war er "wohl der bedeutendste Gelehrte, den Münster im 17. Jahrhundert aufzuweisen hatte". [53]
Zur vollen Wirksamkeit konnte sich sein vielseitiges Talent zweifellos während des Friedenskongresses entfalten. Mehr als dreieinhalb Jahre lang beherbergte er den schwedischen Residenten, den Freiherrn Schering Rosenhane, und dessen Frau in seinem Hause, das dadurch zum Mittelpunkt protestantischen Lebens in Münster wurde. Dessenungeachtet unterhielt er sehr persönliche Kontakte auch zum päpstlichen Nuntius und Friedensvermittler Fabio Chigi, der ihm das bekannte Scherzgedicht über den münsterischen Regen widmete. In ärztliche Behandlung begaben sich bei ihm ebenso Kurfürst Ferdinand, der ihn nach Bonn, und der kaiserliche Hauptbevollmächtigte Graf Trauttmansdorff, der ihn nach Osnabrück berief.
Als leidenschaftlicher Wortführer der Friedenssehnsucht gab er sich in einem am 29. April 1646 in lateinischer Sprache verfaßten Appell an die in Münster versammelten Kongreßbevollmächtigten der kriegführenden Parteien zu erkennen, die er aufforderte, endlich ihrer Christenpflicht zu genügen, das Blutvergießen und die Kriegsgreuel zu beenden und sich im Kampf gegen die das christliche Abendland bedrohende Türkengefahr zusammenzuschließen. [54] (Abb. 4)
Voller Stolz nennt er sich denn auch in einem Brief an einen Gelehrten-Kollegen, den Latinisten Johann Friedrich Gronovius in Deventer, den "inventor" der Schaumünzen, die die Stadt Münster auf den Abschluß des Friedens mit den von ihm verfaßten Inschriften "Pax optima rerum" bzw. "Hic mausoleum martis pacisque trophaeum" über der Stadtsilhouette Münsters prägen ließ. [55] (Abb. 5)
IV. Schluß
Es war somit die geschilderte republikanisch gesinnte, vorhöfische Stadtgesellschaft, die als Gastgeberin des Kongresses auftrat, und zwar ohne den bischöflichen Stadtherrn, der ja als Kurfürst von Köln selbst Kriegs- und Verhandlungspartei war. Die selbstbewußten und traditionsstolzen Gildebürger und Ratsherren, Künstler und Gelehrten vom Schlage eines Hermann tom Ring und Bernhard Rottendorff waren dazu offenbar aus eigener Kraft durchaus in der Lage. In ihrer Stadt mit den mächtigen Wehrbauten, den repräsentativen öffentlichen und privaten Gebäuden, den gepflasterten Straßen, den Märkten und gut funktionierenden Versorgungssystemen gelang es ihnen - natürlich unter Einbeziehung der Domherren-Kurien auf der Dom-Immunität und der Gebäude der anderen Immunitäts-Bezirke -, mehr als fünf Jahre lang den Delegationen aus ganz Europa den erforderlichen äußeren Rahmen für ihre schwierigen Verhandlungen zur Verfügung zu stellen. Das war wohl nur deshalb möglich, weil Münster sich Anfang der 1640er Jahre trotz der zurückliegenden Kriegsjahrzehnte noch auf dem Höhepunkt seiner topographischen, wirtschaftlich-sozialen und kulturellen Entwicklung als städtisches Gemeinwesen befand. [57] Auch wenn die Stadt sich an Bevölkerungszahl, Ausdehnung und Wirtschaftskraft sicher nicht mit den großen Reichs- und Residenzstädten oder gar den Hauptstädten Europas messen konnte, kam ihr als "Metropolis Westphaliae" doch überregionale Bedeutung im Nordwesten des Reiches zu.
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