KLAUS HORTSCHANSKY
Musik und Musikleben in Europa am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges
Die Zeit um das Jahr 1600 wird gemeinhin als eine Epochenwende in der Musikgeschichte begriffen. Mögen Detailstudien auch immer wieder darauf hinweisen, daß der Wandel lange vorbereitet war, allmählich erfolgte und von einer plötzlichen Wende kaum oder nur sehr bedingt die Rede sein kann, so gibt es doch gute Gründe, um 1600 eine neue Epoche entstehen zu sehen, wenn man wesentliche Aspekte des musikalischen Alltags betrachtet. Es ist dabei keine Frage, daß an den Experimentierstationen der musikgeschichtlichen Entwicklung - Venedig wäre da zu nennen, auch auf Florenz wäre zu achten - die Grundlagen des Wandels längst geschaffen waren, dessen Umsetzung und Verbreiterung erfolgte allerdings erst kurz nach 1600.

Zuallererst fällt ins Auge, daß die europäische Allgemeinkultur der frankoflämischen Musik auseinandergebrochen war und regionalen Tendenzen Raum gegeben hatte. Denn beinahe zwei Jahrhunderte lang hatten Komponisten aus dem frankoflämischen Raum das gehobene musikalische Leben im christlichen Europa bis an die Grenzen des russischen Reiches bestimmt, begünstigt durch die, wenn auch kurze, aber desto geschichtsträchtigere Blüte des burgundischen Staates im Westen Europas. Noch am Ende des 16. Jahrhunderts waren zentrale Positionen des mitteleuropäischen Musiklebens von Musikern besetzt, die aus den Niederlanden stammten und dort aufgrund der hervorragenden Ausbildung in den Maîtrisen die Befähigung zur künstlerischen Führerschaft erhielten.

Seit 1563 war der in Mons im Hennegau geborene Orlando di Lasso (um 1532-1594) Kapellmeister am Hofe Herzog Albrechts V. von Bayern (reg. 1550-1579) und des Nachfolgers Herzog Wilhelms V. (reg. 1579-1598). Er schuf ein musikalisches Oeuvre von stupenden Ausmaßen - rund 700 Motetten, 70 Messen, 100 Magnificat-Sätze, 110 Madrigale, 150 Chansons, 90 deutsche Lieder usw. - und von einem internationalen Anspruch, der alle Wünsche befriedigte. Dank der hochentwickelten Notendrucktechnik in Venedig und Antwerpen gelangte das Werk in alle Winkel mit auch nur irgendwie nennenswerter musikalischer Aktivität im Bereich der liturgischen und der weltlichen Kunstmusik.

Am kaiserlichen Hof der Habsburger in Wien und - seit Rudolf II. (reg. 1576-1612) - in Prag wirkte von 1568 bis zu seinem Tode der aus Mecheln stammende Philippe de Monte (1521-1603), dessen Schaffen durch die venezianischen Notendrucker ebenfalls europaweite Verbreitung fand. Auch an zahlreichen Höfen in Italien wirkten bis zum Jahrhundertende noch immer Frankoflamen, so z.B. bei den Gonzaga in Mantua der aus Antwerpen stammende Giaches de Weert (1535-1596). Und schließlich begegnen in einer Liste der Einwohner von Frankfurt am Main aus dem Jahre 1587 unter den dort aufgeführten zehn Berufsmusikern zwei Niederländer: der Organist Watinus (de Wattines) aus Tournai und der Harfenist Franz de Quibber aus Brüssel. [1] Noch sind also die Niederländer in der Musikpraxis allgegenwärtig und tragen auch in der nicht sonderlich auffallenden Stadtmusikpflege Frankfurts ihr Scherflein im Sinne des von ihnen ausgehenden Internationalismus bei.

Die frankoflämischen Komponisten des 15. und 16. Jahrhunderts hatten einen musikalischen Stil ausgebildet und vervollkommnet, in dem die horizontale Stimmführung den musikalischen Satz zu einem undurchdringbaren Gespinst kunstvoll geführter musikalischer Linien von höchster Schönheit und Reinheit werden ließ. Vom Konzept her waren die Linien im allgemeinen für vokale Ausführung gedacht, auch wenn natürlich eine Stützung oder auch alleinige Ausführung einzelner Stimmen durch Instrumente in der Praxis stattfinden konnte. Auch wenn sich seit dem beginnenden 16. Jahrhundert immer wieder und immer mehr nicht den frankoflämischen Maîtrisen entwachsene Komponisten in die bestehende Musikkultur einschalteten, so bedienten sie sich doch weitgehend der vorgelegten Stilmodelle.

Unter dem Dach der allgemein zugänglichen, verbindlichen und geübten Musikkultur frankoflämischer Prägung entwickelten sich jedoch im Verlaufe des 16. Jahrhunderts zahlreiche Sonderformen im Bereich der Musikpraxis ebenso wie auf dem Sektor der musikalischen Gattungen, die zu jener Epochenwende nicht unwesentlich beigetragen haben. Als besonders wirkungsmächtig sind die Entstehung der Gattung des italienischen Madrigals vor allem in Oberitalien (Mantua, Verona, Ferrara), ferner die Einrichtung einer ständigen Instrumentalmusik-Banda an der Staatskirche S. Marco in Venedig und schließlich die Praxis des mehrchörigen Musizierens an derselben Kirche zu nennen.

Nachdem die literarische und musikalische Gattung des Madrigals der ars nova zu Beginn des 15. Jahrhunderts mit einem Mal aus der italienischen Kultur - anscheinend unter dem Druck und Einfluß der gelehrten frankoflämischen Musik - verschwunden war, entfaltete sich, angeregt durch das Mäzenatentum und das Kunstverständnis der Markgräfin Isabella Gonzaga in Mantua, einer geborenen Prinzessin Este (1474-1539), ein neuer literarisch-musikalischer Geschmack, der sich aus der Wiederentdeckung Francesco Petrarcas (1304-1374) und dessen Nachahmung speiste. Die weitgehende poetische Freiheit des literarischen Madrigals - die freibleibend 7- oder 11-silbigen Verse können beliebig gereimt werden - zieht eine ebensolche Freiheit der musikalischen Gestaltung nach sich und begünstigt die Entfaltung einer spezifisch madrigalesken musikalischen Kultur und Kompositionsweise im überkommenen vier-, fünf- oder sechsstimmigen Satz. Hervorstechendes Merkmal ist das intensive Eingehen auf einzelne Wörter des Textes, durch das Inhalt oder Ausdruck mit musikalischen Mitteln interpretiert werden.

An der Auskomposition der Gattung Madrigal sind italienische Komponisten ebenso beteiligt wie Frankoflamen (z.B. Costanzo Festa, Jacques Arcadelt). Um 1600 hatte die Gattung einen Stand erreicht, der sie zur modernsten ihrer Zeit machte und von der Neuerungen am ehesten zu erwarten waren. Die Anbringung sogenannter Madrigalismen hatte längst auf die Gattungen der Messe und der Motette übergegriffen und bildete den Grundstock für eine ausdrucksorientierte Musik. Die Gattung Madrigal eroberte sich rasch die ganze europäische Kultur. In Deutschland (z.B. Leonhard Lechner), England (z.B. Thomas Morley), Spanien (z.B. Francisco Guerrero) und anderswo wurden Madrigale in italienischer oder auch in der Landessprache komponiert.

Das italienische Madrigal ist diejenige Gattung, von der zuallererst Neuansätze ausgingen. Zwei Erscheinungen sind symptomatisch. Die freiheitlichen und ausdrucksbetonten Möglichkeiten bildeten die Voraussetzung, das Madrigal für das musikalische Theaterspiel zu nutzen. Konnte jedes einzelne Madrigal dank seines literarisch-musikalischen Bilderreichtums schon ein kleines Theaterstück in nuce sein, um wieviel mehr eignete sich die Gattung dazu, aus der Kombination vieler charakterisierender und darstellender Madrigale ganze Komödien zu bauen, wie dies Orazio Vecchi (1550-1605) und Adriano Banchieri (1568-1634) mit Fleiß getan haben. Es ist sicherlich kein Zufall, daß Madrigale des berühmtesten Gattungsvertreters, Luca Marenzio (1553/1554-1599), mit im Gesamtkonzept der Florentiner Intermedien von 1589 aus Anlaß der Hochzeit von Ferdinando I. de' Medici (reg. 1587-1609) mit Christina von Lothringen gestanden haben, die allgemein als frühe Erprobungsphase der kurz vor der Jahrhundertwende eingeführten Gattung der Oper gelten.

Noch an anderer Stelle zeigt die Gattung des Madrigals die Einbruchstelle eines neuen Stilverhaltens und damit einer ganz neuen Zeit. Claudio Monteverdi (1567-1643), überragender Neuerer am Beginn des 17. Jahrhunderts, publizierte zunächst einmal von 1587 bis 1603 vier Bücher Madrigale in der herkömmlichen Satztechnik zu fünf Stimmen a cappella, bevor er im 5. Madrigalbuch von 1605 das neue aufführungspraktische Mittel der Generalbaßausführung ("col basso continuo per il clavicembalo, chittarone od altro simile istromento") mit hinzuzog.

Die Hinzunahme des Generalbasses, bei dem ein Akkordinstrument (Orgel, Cembalo, Laute) und Baßinstrumente (Basso, Violoncello, Fagott usw.) zusammen das Fundament bilden, ermöglichte die Aufführung jedes beliebigen musikalischen Satzes; denn fehlten in einer Besetzung Stimmen, so waren diese ja in der von der Gruppe der Generalbaßspieler zu musizierenden Textur mit enthalten. Die Generalbaßausführung garantierte die harmonisch vollständige Wiedergabe jeder Partitur und war damit zu einem Musiziermittel für kleine wie auch große Besetzung geworden, der einen zur Auffüllung, der anderen zur fundierenden Sicherheit.

Im Grunde erlaubte erst die Praxis des Generalbaßspiels solistische Musik, indem die Generalbaßspieler jenen Teil des musikalischen Satzes übernahmen, den der Solist - sei er Sänger, sei er Instrumentalist - nicht spielte, der aber nach den Regeln des bestehenden Systems notwendigerweise den Satz ausmachte. Auch wenn die Praxis schon 1587 nachgewiesen werden kann, so stellt die Publikation der "Cento concerti ecclesiastici" von Lodovico da Viadana (um 1560-1627) im Jahre 1602 doch den eigentlich epochalen Schritt dar. Die mehrfachen Nachdrucke dieses Werks in Venedig und ab 1609 in Frankfurt am Main förderten die rasche Rezeption des Generalbaßspiels und sorgten zugleich für eine Verbreitung der neuen Gattung des solistisch besetzten Geistlichen Konzerts.

Mit dem Madrigal war zunächst in Italien, dann aber auch außerhalb Italiens eine hochgebildete, spezifische Gesellschaftskultur verbunden, die sich an den Höfen und gleichermaßen in den patrizischen Stadtgesellschaften ausbreitete. Sie eröffnete erstmals der Frau eine Mitwirkungsmöglichkeit in einem von hohem literarischen und musikalischen Anspruch geprägten Rahmen. Die 1601 veröffentlichten "Madrigale [...] per cantare, et sonare a uno, e doi, e tre soprani" von Luzzasco Luzzaschi (um 1545-1607), wahrscheinlich schon 1570 für das berühmte Frauentrio des Hofes von Ferrara komponiert, signalisieren eine entscheidende Wende der Gesellschaftsmusik. Diese, die im Herzogtum Burgund noch weitgehend in den Händen der Kleriker lag - auch Herzogin Isabella d'Este, die spätere Markgräfin in Mantua, wurde noch von einem frankoflämischen Kleriker (Johannes Martini) ausgebildet -, ist nun in diejenigen des Adels und des bürgerlichen Patriziats übergegangen, wobei die falsettierenden Männerstimmen mehr und mehr durch Frauenstimmen abgelöst wurden.

Gegen Ende des 15. Jahrhunderts gewinnt Instrumentalmusik zunehmend an Bedeutung. Im Verlaufe des 16. Jahrhunderts etabliert sie sich als ein eigenständiger Bereich im Gesellschaftsleben der Höfe und der stadtbürgerlichen Kultur nicht allein Italiens, sondern überall in Europa. In dieser Zeit vollzieht sich auch eine Trennung von Vokal- und Instrumentalmusik. War diese in ihrer musikalischen Satzfaktur zunächst noch weitgehend im Schlepptau der musikalischen Satzvorstellungen, wie sie die frankoflämische Vokalkultur ausgeprägt hatte, so schuf sich die Instrumentalmusik im 16. Jahrhundert eine eigene, teilweise instrumentenspezifische musikalische Idiomatik sowie eigene Formen und Gattungen. Um 1600 ist die Trennung grundsätzlich vollzogen, und es setzt sich nun in breiter Front das Komponieren für spezifische Instrumente und Instrumenten-Kombinationen durch.

Die mit der Stadt Venedig untrennbar verbundene Mehrchörigkeit, begünstigt durch die räumlichen Gegebenheiten der Markus-Kirche, wurde rasch zum Inbegriff festlicher Musik. Zwar noch von dem Frankoflamen Adriaen Willaert (um 1490-1562) in seinen "Salmi spezzati" von 1550 eingeführt, dann aber von italienischen Komponisten wie Andrea und Giovanni Gabrieli (um 1510-1586 bzw. 1557-1612) weiterentwickelt, fand sie außerhalb der Lagunenstadt zunächst nur zögernd, dann allerdings nach 1600 auf dem schnellsten Wege Nachahmung, nicht zuletzt auch nördlich der Alpen. Hans Leo Haßler (1564-1612) in Nürnberg, Michael Prätorius (1571/72-1621) in Wolfenbüttel und Heinrich Schütz (1585-1672) in Dresden griffen die Möglichkeit begierig auf und machten das Verfahren zum festen Bestandteil der Kompositionspraxis des 17. Jahrhunderts.

Die Erfahrungen mit Mehrchörigkeit und der verbreitete Wunsch nach ihr hatten ihre Konsequenzen: Im 1628 vollendeten Neubau des Salzburger Domes, der, auf der Scheide zwischen Süd und Nord liegend, weithin in den süddeutschen Raum ausstrahlen sollte und als Musterbau im Zeitalter der Gegenreformation konzipiert war, wurden in der Vierung vier Musikeremporen - zwei davon mit Orgeln bestückt - eingebaut, die eine Prachtentfaltung von bis dahin unbekannten Ausmaßen zuließen. Das berühmteste Werk, die "Missa Salisburgensis" von Heinrich Ignaz Franz Biber (1644-1704) aus dem Jahre 1682 (?), früher allgemein Orazio Benevoli (1605-1672) zugeschrieben, ist für 53 Stimmen zu fünf Chören komponiert.

In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts haben sich drei entscheidende Prozesse abgespielt, die unlösbar miteinander verschränkt sind und im Bereich des Musiklebens wie auch der Gattungen und Formen gravierende Veränderungen nach sich zogen. Zum einen bahnte sich überall, hier früher, dort später, die Ablösung der internationalen frankoflämischen Musikkultur an. So lange diese fähig war, alle nationalsprachig aufkommenden Anstöße aufzufangen, so lange konnte die Ablösung eine Weile hinausgeschoben werden: Orlando di Lasso komponierte neben einem eindrucksvollen lateinisch-geistlichen Oeuvre italienische Madrigale ebenso wie französische Chansons oder deutsche (und auch niederländische) Lieder. Der frankoflämische Komponist Jacobus Arcadelt (um 1500-1558) nahm sich sofort beim Entstehen der neuen Gattungen des italienischen Madrigals und des neuen Typs der Stadt-Pariser Chanson derselben an und zählte sogleich zu den besten Erfüllern der ungeschriebenen Gattungsnormen.

Am Ende des Jahrhunderts jedoch war dieses kompositorische Potential verbraucht. Einsam steht als oft apostrophierter "letzter Niederländer" (so die ältere Bezeichnung der frankoflämischen Komponisten) Jan Pieterszoon Sweelinck (1562-1621) da, dessen Vokalschaffen - Psalmenvertonungen und Cantiones sacrae - noch einmal die hohe Kunst vollgültig repräsentierten, dessen Wirkungsmächtigkeit allerdings vor allem auf dem Gebiet der Orgelkomposition und des Orgelspiels beruhte. Gerade die nord- und mitteldeutschen Meister wie Heinrich Scheidemann (um 1596-1663) in Hamburg und Samuel Scheidt (1587-1654) in Halle an der Saale waren seine bedeutendsten Schüler. Das mit der Einführung des Calvinismus einhergehende Verbot von Kirchenmusik in Amsterdam, wo Sweelinck wirkte, und überhaupt in den nördlichen Niederlanden hat sicherlich neben anderen Faktoren zu einem Ende der Blütezeit der frankoflämischen Musik beigetragen.

Die Ablösung der Führungsrolle der frankoflämischen Komponisten führt zu einer in der Kulturgeschichte einmaligen und noch längst nicht in allen Einzelheiten erklärbaren Dominanz Italiens, die bis zum Ende des 18. Jahrhunderts ungebrochen angehalten hat. Auf dem Gebiet der Oper sollte sich diese sogar noch bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts fortsetzen, als erst der Antagonismus zwischen Richard Wagners Werk auf der einen Seite und dem Opernschaffen Giuseppe Verdis auf der anderen Seite ein Ende signalisierte. Spätestens um 1600 war die italienische Sprache allgemein zur internationalen Fachsprache der Musik geworden und ist es bis heute geblieben. Schon seit der Mitte des 16. Jahrhunderts waren alle bedeutenden theoretischen Schriften nicht mehr in Latein abgefaßt worden, sondern in italienisch, allen voran Gioseffo Zarlinos (1517-1590) für die humanistische Renaissance richtungsweisendes Buch "Le istitutioni harmoniche" von 1558.

Symptomatisch für die neue Führungsrolle, die auf dem Gebiet der praktischen Musik von Italien ausging, ist die Tatsache, daß angehende oder auch nur halbwegs fertig ausgebildete Musiker nach Italien gingen oder geschickt wurden, um sich zu vervollkommnen. Dahinter steht auch die gewandelte Vorstellung, daß Musik nicht mehr - wie zu Zeiten der frankoflämischen Komponisten, die sich im allgemeinen aus dem Klerus rekrutierten - eine Wissenschaft sei, die im Trivium der universitären Ausbildung ihren festen Platz hatte, sondern eine Praxis, vergleichbar den mechanischen Künsten, die beinahe handwerksmäßig zu erlernen sei.

Die musikalische Welt um 1600 lebte von der durchaus an der Handwerkerausbildung orientierten Vorstellung, daß begabte Nachwuchskräfte zum Lernen in das Ausland zu gehen hätten. Dabei hatten sich zwei Anziehungspunkte unterschiedlicher Art herauskristallisiert. Wenn die Tonkunst als Ganze erfahren und erlernt werden sollte, so wurden die ausgewählten Kandidaten nach Italien geschickt, wo vor allem Venedig mit seiner kunstvoll ausgebildeten Vokal- und Instrumentalmusik sowie der glanzvollen Mehrchörigkeit mächtig anzog. Der Aufenthalt Heinrich Schützens in Venedig bei Giovanni Gabrieli aufgrund eines Stipendiums des sächsischen Kurhauses ist ebenso bekannt wie folgeträchtig. Doch ist er längst nicht der einzige Italien-Reisende. Zu nennen wären noch der Nürnberger Hans Leo Haßler, der 1584 nach Venedig reiste, oder Johann Grabbe (1585-1655) aus Lemgo, den Graf Simon VI. zur Lippe (reg. 1563-1613) 1607 zur weiteren musikalischen Ausbildung ebenfalls nach Venedig zu Giovanni Gabrieli schickte.

Ging es jedoch nicht um die Erlernung der Tonkunst an sich, sondern um die handwerkliche Praxis des Orgelspiels mit all ihren vielen Möglichkeiten, so schickte man die Kandidaten nach Amsterdam zu Jan Pieterszoon Sweelinck. In Holland hatte nicht nur der Orgelbau eine weit ausstrahlende Blüte erfahren, auch das Orgelspiel war zu seltener Vollkommenheit gediehen, die auf Nord- und Mitteldeutschland eine besondere Anziehungskraft ausübte. Die Kosten übernahmen nicht selten die Städte. So schickte der Rat der Stadt Leipzig Andreas Düben (um 1590-1662) für sechs Jahre von 1614 bis 1620 "zue dem Künstler Johan Pedersen" [Sweelinck], "dormit er seine Kunst desto beßer lerne und das Componiren und Fugiren aus dem Fundament perfekt lernet". [2] Der so geförderte dankte es seiner Heimatstadt allerdings schlecht, denn er ging 1620 oder 1621 nach Stockholm, wurde dort Hoforganist und Organist an der deutschen Kirche und später (1640) Hofkapellmeister.

Neben den beiden beschriebenen Prozessen - Auslaufen der internationalen frankoflämischen Einheitskultur und Gewinnung der musikalischen Hegemonie durch Italien - hat sich seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts noch ein dritter Prozeß abgespielt, den der Sozialhistoriker Fernand Braudel vor allem im Bereich der Wirtschaft und der Produktion untersucht hat, der aber auch im Bereich des kulturellen Lebens wirksam wird: die allmähliche Verlagerung vom Mittelmeerraum nach Zentral-, Nord- und Mittelosteuropa.

In Europa ereignete sich im Verlauf des 16. Jahrhunderts eine bemerkenswerte Umkehrung und Verlagerung der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Gewichtungen. Bedeutete die Renaissance eine kumulative Bündelung aller Kräfte und Interessen vor allem in Italien als mediterranem Zentrum - erwachsen aus einer frühkapitalistischen Wirtschaftsform und der entsprechenden politischen Weitsicht -, so drängten nun nach 1500 andere Regionen in den Vordergrund, in denen die Voraussetzungen für wirtschaftliche Innovationen besser gegeben waren als im nunmehr politisch weitgehend ohnmächtigen Italien, das zunächst in französische und nach 1550 in spanische Abhängigkeit geraten war.

Die Umorientierung geschah vor dem Hintergrund eines relativen Reichtums sowohl in Oberitalien als auch nördlich der Alpen. Sie war verbunden mit einer sich überstürzenden Erneuerung im Bereich der Technik, der Kunstfertigkeit, der Mode und der Lebensformen. Die Ausweitung und Internationalität des Erlebnishorizontes schufen einen zuvor nicht gekannten Reichtum von Eindrücken. Dabei war nördlich der Alpen der "Nachholbedarf" gegenüber der verfeinerten Zivilisation in Italien und im übrigen Mittelmeerraum zweifelsohne groß. Und ihm gaben sich diese Regionen dann auch mit unverbrauchter, sich überbietender Energie - so etwa wie "Neureiche" - hemmungslos hin. Die Fülle der aus eigenen Kräften gemachten Erfindungen und Neuentwicklungen ist dabei ebenso beeindruckend wie die der Adaptionen und Importe aus fernen und fernsten Ländern.

Die allenthalben in Deutschland im 16. Jahrhundert erkennbare Hereinnahme italienischer Musik darf nicht isoliert gesehen werden, sondern sollte als Aneignung kultureller Formen im Zusammenhang mit den anderen Künsten verstanden werden. Es ist ja offensichtlich so, daß die bildenden Künste, so wie sie sich im 15. und 16. Jahrhundert in Italien entfaltet hatten, allen voran die Malerei, aber auch die Skulptur und die Architektur, eine Vorbildfunktion einnahmen, die so weit ging, daß Künstler dieser Sparten regelmäßig nördlich der Alpen arbeiteten und autochthone Entwicklungen, etwa in der Malerei, mit beträchtlichem Erfolg zurückdrängten oder zeitweise gar zum Erliegen brachten.

Eine zentrale, weil verschiedene Kunstbereiche verbindende Rolle spielte offensichtlich das höfische Festwesen, welches sich von dem des späten Mittelalters erheblich unterschied. Erst in dem Maße, in dem man bereit war und es sich aus Sicherheitsgründen auch leisten konnte, aus den engen Grenzen der Burgen oder burgartigen Schlösser in großräumige Gebäudekomplexe, die auch Freiplätze und Gärten einschlossen, herauszugehen, entwickelte sich eine Fest- und Festspielkultur, die Malerei, Skulptur, Architektur, Musik, Reitkunst und vieles andere in ein manches Mal großartiges Gesamtkonzept zu bringen verstand. Die Feste am Hofe der Medici gegen Ende des Jahrhunderts, über die man ja schließlich in gedruckten Berichten nachlesen konnte, entfalteten eine Wirkungsmöglichkeit, der gegenüber die internen höfischen Beschreibungen des prunkvollen Ritualvollzugs am burgundischen Hofe Philipps des Guten (reg. 1419-1467) eines Jean Molinet (1435-1507) und anderer eher nur eine blasse Ahnung geben konnten.

In Dresden ist die Anlehnung und Übernahme besonders deutlich zu spüren. Das junge Kurfürstentum Sachsen bot nach 1555 die denkbar besten Voraussetzungen für die Pflege und Aneignung von Kultur nach eigenen Vorstellungen, ohne auf störende Vorbedingungen allzu große Rücksichten nehmen zu müssen. Die Auseinandersetzungen um die neue Religion waren gewonnen, der Konkurrent Brandenburg-Kulmbach wurde 1553 geschlagen, die nördlichen Brandenburger hatten ihre eigenen Probleme und das Land des mächtigsten Verbündeten, das des Landgrafen Philipp von Hessen (reg. 1509-1567), zerfiel nach dessen Tode durch unnötige Erbteilungen. Sachsen war damit das angesehenste weltliche Kurfürstentum im Reichsfürstenstand, dem mit dem Amt des Erzmarschalls seit 1566 auch noch eine gewichtige repräsentative Aufgabe zufiel.

Die die bürgerlich-kapitalistische Eigeninitiative fördernde Staatsreligion des Luthertums, eine technologisch moderne Wirtschaft und dazu ein großer Vorrat an Bodenschätzen bildeten eine gesunde Basis für eine expansive Territorialpolitik und eine kreative, flexible Kulturförderung. Mit der Verlegung der Residenz von Wittenberg und Torgau nach Dresden konnte das kulturelle Ornament als Symbol neugewonnenen Staatsbewußtseins in einer Weise eingesetzt werden, die bereits das absolutistische Denken der Barockzeit vorausnimmt. Man wird dies nicht allein in der Verpflichtung auswärtiger berühmter Künstler zu suchen haben, sondern auch in der Öffnung gegenüber dem kulturellen Angebot der Region, vor allem aber dem des Auslandes.

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Die Kapellordnung vom 1. Januar 1555, die August von Sachsen gleich am Beginn seiner Regentschaft (1553-1586) erlassen hatte [3], enthält ein Novum: Nicht nur, daß das Personal beträchtlich vermehrt, also größeren repräsentativen Aufgaben angepaßt wurde, man stellte neben den 19 Kapellsängern und den 13 Kapellknaben nun auch die völlig neue Truppe der sieben "welschen Instrumentisten" ein. [4] Die durchschnittlich höhere Besoldung der Italiener ließ sie beinahe das Ansehen von uomini virtuosi gewinnen und trug im übrigen nicht zur Harmonie in der deutsch-niederländisch-italienischen Gesamtkapelle bei. Kantorei und Instrumentistengruppe bildeten nach dem italienischen Vorbild der Organisation an S. Marco in Venedig in der Folgezeit zwei getrennte Körperschaften. Der Bereich der Instrumentisten wurde personell und auch materiell, d.h. bezüglich der Anschaffung von Instrumenten ständig erweitert. [5] Die Italiener standen zunächst unter der Führung des Bergamasken Antonio Scandello (1517-1580), der den poltitisch-religiösen Regeln gemäß Protestant wurde und dann 1568 mit dem damals erstaunlich hohen Jahresgehalt von 400 Gulden - als Nachfolger des Frankoflamen Mattheus Le Maistre (um 1505-1577) - zum Kapellmeister ernannt wurde.

Als Nachfolger des Hofkapellmeisters in Dresden wurde 1580 wiederum ein Italiener benannt, nämlich Giovanni Battista Pinello di Ghirardi (um 1544-1587), der sich selbst als genuesischer Edelmann bezeichnete und von Rudolf II. aus Prag nach Dresden empfohlen worden war. Mit ihm wurde jetzt nicht ein Instrumentalist (wenn auch auf Wunsch der italienischen Instrumentalisten), sondern ein Sänger (Tenorista) engagiert. Die Wachablösung der Frankoflamen zugunsten von Italienern erscheint damit paradigmatisch vollzogen. Daß sich Pinello nur vier Jahre in Dresden halten konnte, um dann - aufgrund von Intrigen oder aufgrund mangelnder Führungsqualitäten, das bleibe dahingestellt - einem deutschen Kapellmeister (Georg Forster) Platz zu machen, ist für die allgemeine Tendenz ohne Belang.

Wenn auch die humanistische Bewegung des 15. und 16. Jahrhunderts in Europa keine monolithische Einheit war, so lassen sich doch zwei zentrale Aspekte im Blick auf alle europäischen Regionen festhalten: Sie formulierte, erwachsen aus dem typisch italienischen Verständnis von Commune, ein deutlich akzentuiertes Bewußtsein der nationalen Eigenart, und sie schuf eine im bürgerlichen bzw. staatlichen Leben tätige, nichtkirchliche Intelligenz, die es bisher kaum gegeben hatte. Beide Aspekte sind auch für die musikgeschichtliche Entwicklung in Europa von weitreichender Bedeutung. Hatten schon die protestantischen Religionen den bürgerlichen, nicht dem Priestertum zugehörigen Komponisten und Musiker freigesetzt, so war jetzt am Ende des 16. Jahrhunderts auch in den katholischen Ländern nicht selten an der Spitze eines Musikwesens der bürgerliche, verheiratete Musiker zu sehen: Orlando di Lasso, Hofkapellmeister in München, ist hier ebenso zu nennen wie Claudio Monteverdi, Hofkapellmeister in Mantua und später Kapellmeister an S. Marco in Venedig. Fünfzig Jahre früher wären ihre kindergesegneten Biographien noch kaum denkbar gewesen.

Der humanistische Anstoß aus Italien hat besonders in Frankreich, England und Deutschland zu einer eigenständig nationalen, auch an der Landessprache orientierten Musikkultur geführt. Daß Spanien um 1600 im europäischen Konzert ebenfalls eine selbständige und in ihrer Idiomatik, ihren Formen und Gattungen eigenständige Musikkultur aufweist, sei betont, auch wenn Bewahrung und Weiterentwicklung alter Traditionen eher die Ursache sein dürfte als die fruchtbare Anverwandlung des humanistischen Konzepts Italiens.

1570 wurde in Paris unter dem Patronat König Karls IX. (reg. 1550-1574) von dem Dichter Jean-Antoine de Baïf (1532-1589) und dem Musiker Joachim Thibault de Courville (um 1535-1581) die Académie de Poésie et de Musique gegründet. Auch wenn die dort konzeptionell gewollte Rückbesinnung auf die Antike und die daraus resultierende Schaffung von quantitierenden Versen mit entsprechend rhythmisierter Musik keine ungeteilte Zustimmung fand, so war damit doch ein Zeichen gesetzt und eine nationale Institution geschaffen, in der Zuständigkeit für Literatur und Musik gesucht werden durfte. Daß zunächst einmal der Hugenottenpsalter - die Versifizierung der Psalmen durch Clément Marot (1496-1544) und Théodore de Bèze (1519-1605) - für beide Seiten, für Protestanten ebenso wie für Katholiken, ein höheres Maß an kultureller Identifikation bedeutete, tut der langfristigen Wirkung der Académie als zentraler Pflegestätte keinen Abbruch.

Die Schaffung eigener musikalischer Gattungen und Formen wurde in Frankreich noch begünstigt durch das Zentralisierungsbestreben des Hofes. Der König suchte dort alles zusammenzuziehen, was den Ruhm des Reiches mehren konnte. Zur zentralen Einrichtung wurde der von König Heinrich IV. (reg. 1589-1610) eingerichtete Posten des Surintendant de la musique de la Chambre im Jahr 1592, mit dem der Beginn einer offiziellen Hofmusikkultur neuer Art gesetzt war. Unter Ludwig XIV. (reg. 1643-1715) nahm diese monarchische Zentralisation den Charakter einer Kunstdiktatur an, die spätestens nach Beendigung des Dreißigjährigen Krieges auf ganz Europa ausstrahlte.

Eine erste nationale Ausprägung hatte die Chanson in der sogenannten Stadt-Pariser Chanson erfahren, die in unzähligen Drucksammlungen von Paris und Lyon aus seit den dreißiger Jahren des 16. Jahrhunderts verbreitet wurde. Im Kontrast zur älteren höfischen Chanson wollte die neue Gattung vor allem dem Wort, dem Verstand und dem Esprit breiten Raum geben, damit das realistische Denken des Bürgers einen Anreiz erhielte. In der Beliebtheit des Publikums abgelöst wurde die Gattung von dem Air, d.h. von der instrumental begleiteten, überwiegend einstimmigen Lied- oder auch Tanzmelodie, das in vielerlei Formen begegnet und die Gesellschaftskultur um 1600 bis zum Jahrhundertende als air à danser, als air à boire, als air de ballet oder als air spirituel maßgeblich geprägt hat. Einige dieser Formen wie das air à boire waren der Volkskunst stark verpflichtet.

Unter den Anregungen der Académie de Poésie et de Musique war in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts das Ballet de cour entstanden, in dem Tanz, Musik und Dichtung verbunden waren. Es war seiner Konzeption nach eine Gattung ausschließlich für die höfische Gesellschaft, in der neben wenigen Berufsmusikern hauptsächlich Mitglieder des Hofadels und auch der königlichen Familie mitwirkten. Neben den Tänzen gehörten zu einem Ballet de cour auch Vokalkompositionen in Form von airs de cour und Deklamationen in Form der récits. Textbücher setzten die Zuschauer in die Lage, der Handlung und den Texten zu folgen. Diese Gattung, die sich am französischen Hof in mehreren Spielarten entwickelt hatte, erwies sich während der Kriegszeiten in Europa und vor allem danach als besonders wirkungsmächtig, wurde sie doch vielfach nachgeahmt und hatte sie doch für die hofinterne Gesellschaftskultur aufgrund der Mitwirkung aller einen nicht zu unterschätzenden, Auge, Ohr, Verstand und Körper ansprechenden Unterhaltungswert.

Bei aller intendierten Eigenständigkeit der französischen Musikkultur eignete ihr auch eine gewisse Einseitigkeit, die musikalisch Interessierte immer wieder nach Italien blicken ließ und früh einen letztlich bis zum Ende des 18. Jahrhunderts nie abreißenden Diskurs über die Vorzüge und Nachteile bzw. die Überlegenheit der einen oder der anderen Musik eröffnete. Begleitet wurde die ständige Diskussion durch die Einladung an italienische Musiker und Literaten schon zu Zeiten der Katharina de Medici (1519-1589), die unter Kardinal Jules Mazarin (1602-1661) dann zu einer wahren Invasion italienischer Musik führte. Auch hier in Frankreich ist also die permanente Dominanz italienischer Musikkultur - und wenn auch nur bereichsweise als Folie - erkennbar.

Nach der Lösung der englischen Kirche im Jahr 1531 vom Papsttum durch Heinrich VIII. (reg. 1509-1547) und der Konsolidierung des englischen Königtums unter Elisabeth I. (reg. 1558-1603) begann eine große Blütezeit englischer Literatur und Musik. Die enge Bindung der Musik an die Sprache hat ihre Wurzel in der italienischen humanistischen Ästhetik und wird auch mittels italienischer Vorbilder wie etwa der Übersetzung von Baldassare Castigliones (1478-1529) "Il libro del cortegiano" nach England verpflanzt. Seit 1562 stand Alfonso (I.) Ferrabosco (1543-1588) aus Bologna in Elisabeths Diensten und vermittelte den englischen Komponisten die Kenntnis des italienischen Madrigals, das diese als Hauptgattung der englischen Gesellschaftskultur weiterentwickelten und anglisierten, wobei man bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts - im Gegensatz zur Generalbaßpraxis auf dem Kontinent - an der vokalen Mehrstimmigkeit festhielt.

Daneben fallen noch zwei weitere spezifisch englische Gattungen ins Auge, die dann auch auf den Norden des Kontinents ausstrahlten: das ayre und das consort. Die Blütezeit der ayres - englischsprachiger Sololieder mit Instrumenten- und/oder Lautenbegleitung - begann 1597 mit John Dowlands (um 1563-1626) "First Booke of Songes or Ayres" und endete 1622. Besonderer Beliebtheit erfreute sich die consort-Musik, unter der eine Musik für aus vier bis sechs Musikern bestehende Kammermusikensembles zu verstehen ist; sie kann für Instrumente einer Familie (Whole Consort) oder aber auch für Instrumente unterschiedlicher Familien (Broken Consort) komponiert sein. Dahinter steht eine außerordentlich reiche und intensive Instrumentalmusikpflege, aus deren Einflußbereich nicht wenige Instrumentalmusiker und auch Lautenisten zeitweise auf dem Kontinent wirkten, so z.B. John Dowland 1594/95 an den Höfen in Wolfenbüttel und Kassel und 1598-1606 am Hofe Christians IV. von Dänemark (reg. 1588-1648).

Unter allen Neuerungen, die um 1600 von Italien ausgingen, ist sicherlich die Schaffung der Oper die wirkungsmächtigste. Keine Gattung hat auf lange Sicht die musikalische Kultur Europas derart entscheidend verändert. Mit ihr ist nicht nur eine neue Gattung mit verschiedenen literarischen Formen und Subgattungen aus der Taufe gehoben worden, mit ihr ist auch dem Darstellungsstil in der Musik auf eine folgenschwere Weise zum Durchbruch verholfen worden, der in der Zukunft immer deutlicher trennt zwischen einer Musik (mit allen Begleitumständen wie Szene, Bild, Handlung usw.), die nur zum Zuhören und Zuschauen, und einer Musik, die zum Selber-Musizieren gedacht ist.

Die Oper entstand um 1600 in Italien und speiste sich dabei aus drei Quellen, aus dem Pastoraldrama mit Musikeinlagen, aus den Festveranstaltungen an den oberitalienischen Höfen, allen voran denen in Florenz, und schließlich aus der Diskussion um eine mögliche Wiedergewinnung der antiken Tragödie, wie sie vor allem in der "Camerata Fiorentina" des Grafen Giovanni de' Bardi (1534-1612) geführt wurde. Mit "Dafne", Dichtung von Ottavio Rinuccini (1562-1621), Musik von Jacopo Peri (1561-1633) und Jacopo Corsi (1561-1604) (nur in wenigen Bruchstücken erhalten), und "Euridice", Text wiederum von Rinuccini, vertont einmal von Peri und ein zweites Mal von Giulio Caccini (um 1550-1618), liegen 1598 und 1600 die ersten drei vollgültigen Opernversuche vor. In ihnen wurde in einem von der Antike inspirierten Einzelgesang (der Monodie) über einem instrumentalen Stützbaß in meist langen Notenwerten ein neuer Vortragsstil, recitativo bzw. rappresentativo, praktisch erprobt. Ziel war es, die Sprache durch den musikalischen-gestischen Vortrag zu einer erhöhten, affektbetonten Wirkung kommen zu lassen.

Das Florentiner Konzept der Oper wurde in verschiedenen Entwicklungsstationen rasch erweitert. Neben ariose Formen mit der Tendenz zur weiteren Schließung der Form traten Chorsätze, Instrumentalsätze und auch Solo-Ensemblesätze. Zentren der Opernversuche und -pflege waren zunächst die oberitalienischen Höfe (Florenz, Mantua) und die Hofhaltungen der Kardinäle in Rom. Der Siegeszug der Gattung war spätestens 1637 nicht mehr aufzuhalten, als in Venedig das erste öffentliche Opernhaus - das Teatro di San Cassiano - seine Pforten öffnete und Oper auf der Basis eines Unterhaltungsunternehmens für die gebildeten Touristen Europas und die Oberschichten der Republik anbot. Claudio Monteverdi, der sich schon in der Erprobungsphase in Mantua mit "Orfeo" (1607) und "Arianna" (1608, nur das Lamento ist erhalten) an der Weiterentwicklung der Gattung über das monodische Grundkonzept hinaus beteiligt hatte, steuerte nun in Venedig zum kommerziellen Opernunternehmen noch zwei bedeutsame Beiträge bei: "Il ritorno d'Ulisse in patria" (1640) und "L'incoronazione di Poppea" (1642).

Wie alles, was in der musikalischen Szene Italiens geschah, wurde auch die Entstehung der Oper nördlich der Alpen wahrgenommen. Die Hofberichterstattung einerseits und der Musikeraustausch andererseits sorgten für ziemlich genaue Mitteilung wohl auch der Details. Daß es zunächst nicht zu einer direkten und vor allem weitverbreiteten Übernahme des italienischen Modells im Norden gekommen ist, daran trägt sicherlich der Ausbruch des Krieges die Schuld. Denn dem italienischen Vorbild nacheifern können hätte man nur an den Höfen, und dort waren die Kräfte mehr oder weniger gebunden durch die Kriegsführung. Interesse bestand überall. Bereits 1628 fanden in Warschau auf dem Schloß die ersten Aufführungen originaler italienischer Opern statt, denen bald Neukompositionen ortsansässiger Italiener (Marco Scacchi, Michelangelo Brunerio) folgten.

In Dresden, wo schon die zahlreichen italienischen Kapellmusiker eine ständige Verbindung mit dem Süden garantierten, hatte man die Entwicklung der neuen Gattung auch beobachtet. Jedenfalls ließ man die "Dafne" von Rinuccini 1627 in der Übersetzung von Martin Opitz (1597-1639) anläßlich der Hochzeit der ältesten Tochter des Kurfürsten auf Schloß Hartenstein in Torgau aufführen. Heinrich Schütz komponierte die Musik, von der allerdings nichts erhalten ist. So weiß man nicht, ob die Vertonung des Textes durchweg in jenem monodischen Stil gehalten ist, der die erste Komposition von Peri des Jahres 1598 auszeichnete, oder ob Schütz der Entwicklung der Gattung, soweit sie ihm bekannt geworden ist, Rechnung getragen, einen vielfältigeren und abwechslungsreicheren Stil der Vertonung angewendet und dabei zusätzlich Erfahrungen aus dem Theaterstück mit Musik, wie es in Deutschland mancherorts gepflegt wurde, eingewoben hat. Das letztere dürfte der Fall gewesen sein.

Die Situation am Dresdner Hof ist typisch für das Verhalten überall an den deutschen Höfen. Man ist bezüglich der musikalischen Kultur voll auf der Höhe der Zeit und auch bereit, neue Entwicklungen aufzugreifen und in das eigene Ambiente zu verpflanzen, wenn erwünscht, dann eben in Übersetzung, wie in Torgau geschehen. Die Jahre des Krieges führen jedoch zu einer gewissen Stagnation, die sich naturgemäß besonders in der musikalischen Festkultur und der privaten höfischen Unterhaltungskultur zeigen muß, da die Führungsschichten meist auf Kriegszügen sind. Nur höfische Zeremonialveranstaltungen wie Hochzeitsfeste mobilisieren die noch vorhandenen Kräfte einer jeglichen Hofmusikhaltung.

Exemplarisches läßt sich auch an der Musikübung am württembergischen Hof in Stuttgart ablesen. Dort findet man all die behandelten Aspekte innerbetrieblich umgesetzt und damit die Voraussetzungen geschaffen, eine wirkungsvolle, repräsentative, Geist und Seele ausfüllende musikalische Hofkultur zu betreiben. Der Herzog verfügte bereits 1575 über eine aufwendige Instrumentalmusik, die Philipp Nicodemus Frischlin (1547-1590) in großer Überschwenglichkeit beschrieb: "in allen enden höret man mit den Instrumenten ein Engelsüsse Music [...], mit vier, mit fünffen, mit sechs stimmen, mit Saitenspilen, Clavizimmen, mit schreiend Pfeiffen vnd Schalmeien, daß eim das Hertze möcht erfrewen." [6] Später, 1625, ist die Hofmusikkapelle hinsichtlich der Instrumentalisten auch noch um eine "Engelländische Compagnia" vermehrt.

Die herzogliche Kapelle war seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert immer ausgezeichnet mit Personal ausgestattet. Im Jahre 1611 bestand sie sogar aus 68 Mitgliedern einschließlich der Kapellknaben. Unter den Mitgliedern befand sich auch ein Kastrat deutscher Provenienz; ein "Eunuchus", von dem die Quelle sagt, er "singt auch ein Discant, schlägt nit gar wol auff der Lautten, sunsten ein frommer gesell". [7] Daneben ist auch ein italienischer Baß-Sänger in der Kapelle anzutreffen. Nachdem die päpstliche Kapelle trotz Verbotes der Kastration schon 1588 einen spanischen Kastraten aufgenommen hatte, konnten diese von den kirchlichen Kapellen Italiens nicht mehr ferngehalten werden, wo sie wegen des verbotenen kirchlichen Frauengesangs die falsettierenden Männerstimmen verdrängten. In der italienischen Oper, namentlich in den kommerziellen Unterhaltungsbetrieben Venedigs, hatten sie ihr eigentliches Wirkungsfeld. Von daher wäre der württembergische Hof auf die Pflege italienischer Oper einigermaßen vorbereitet gewesen. Zur Gesangskultur am württembergischen Hofe gehörte auch die Praxis des Koloratursingens, über die sich die Akten immer wieder auslassen; gerade für die Kammermusik sollten die Diskantisten "zu einer feinen Coloratur angewisen werden". [8]

Bei aller Aufgeschlossenheit und modernen Ausrichtung der württembergischen Hofkapelle wie auch anderer fürstlicher Kapellen ist die Basis der Kapellmusik noch immer die frankoflämische Polyphonie vor allem in Gestalt des Oeuvres Orlando di Lassos. 1604 wird der Herzog gebeten, dem Ankauf des gerade erschienenen "Magnum opus musicum" bei "des Orlandi Erben" zu genehmigen, weil dieses Werk mit seinen über 500 Motetten nicht allein der fürstlichen Kapelle, "sondern der ganzen Universal-Musica allenthalben nützlich" sei. [9]

Was hier für die herzogliche Kapelle in Stuttgart belegt ist, hat nicht nur seine Parallelen in anderen Hofkapellen, sondern teilweise auch in den Kantoreien der Städte (vgl. meinen Aufsatz "Musikalischer Alltag im Dreißigjährigen Krieg" in diesem Band). Die Hauptform der Kirchenmusik um 1600 war die Motette. Hatte sie vor 1550 ihre klassische Ausbildung im vierstimmigen Satz erfahren, so war jetzt der fünf- und sechsstimmige Satz die Regel; aber auch doppel- und dreichörige Kompositionen zu acht bzw. zwölf Stimmen waren keine Seltenheit und entsprachen dem Bedürfnis nach klanglicher Prachtentfaltung, wie sie mancher Komponist in Italien, insonderheit in Venedig kennengelernt haben mag. Dabei mußten nicht alle Stimmen vocaliter ausgeführt werden, oft wurden Instrumente hinzugezogen, und der Organist hielt den ganzen Satz durch sein Mitspiel einer Particell zusammen.

Säulen der Motettenliteratur waren auf der einen Seite die Werke des bayerischen Hofkapellmeisters Orlando di Lasso, deren Drucke in jeder kleinen Kantoreibibliothek verfügbar waren, wie die Bestände oder die erhaltenen Inventare belegen, und auf der anderen Seite das "Florilegium musicum Portense" des Erhard Bodenschatz (1576-1636). Dieser hatte (spätestens) während seiner Tätigkeit als Kantor an der Eliteschule zu Schulpforta bei Naumburg eine Sammlung von 265 lateinischen Motetten deutscher und italienischer Komponisten zusammengetragen und sie 1603 ("Florilegium selectissimarum cantionum") und 1621 ("Florilegium musicum Portense") in zwei Teilen publiziert. Die Sammlung blieb zumal in den sächsischen Ländern bis in die Zeiten Johann Sebastian Bachs (1685-1750) in Gebrauch.

Das lange Festhalten hat seine Ursache. Grundlage der regelmäßigen Kirchenmusik vor allem in den protestantischen Regionen war die sogenannte Figuralmusik. Doch ist sie erst, wenn man nicht nur solche Vorreiterposten wie Leipzig, Wittenberg, Torgau oder Dresden vor Augen hat, in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts weitgehend flächendeckend etabliert gewesen. Aus Frankfurt am Main wird berichtet, daß am 22. März 1573 "die Praeceptoren und discipuli des Gymnasii zum erstenmal die Figural-Music in der [evangelischen] Barfüßerkirche" gesungen haben, "so zuvor an diesem Ort nicht bräuchlich gewesen." [10] Gerade bei der Frage, wann der aus Italien herüberkommende Stilwandel in deutschen Landen aufgegriffen wird, muß man das Festhalten an einer noch gar nicht so alten, aber inzwischen bewährten Praxis sehen und ein gewisses Beharrungsvemögen aller daran beteiligten Kräfte verstehen.

Dennoch wurden überall in Deutschland, gleichgültig ob in den katholischen oder in den protestantischen Ländern, die italienischen Neuerungen, d.h. der konzertierende Stil in Verbindung mit der neuen Generalbaßpraxis und die neue instrumentale Ensemble-Musik, begierig aufgenommen. Die stetig anwachsende Menge der musikalischen Druckpublikationen belegt dies auf ihren Titelblättern deutlich. Kaum ein Titel, der nicht auf italienische ("welsche") Anregungen oder Formen hinweist, wenn er nicht gleich auf italienisch abgefaßt ist. Es bahnt sich eine Epoche der Neuorientierung an, die durch die kriegerischen Wirren und Schicksale nur unwesentlich gebremst, keinesfalls aber in eine andere Richtung gelenkt wird. Das sollte mit einer deutlichen Orientierung nach Frankreich hin erst nach dem Kriege geschehen.

Wenn auch der musikalische Aufwand, der am Hofe Bischofs Ernst August I. (reg. 1662-1698) aus dem Hause Braunschweig-Lüneburg auf dem Schloß in Iburg und später in dem neuerbauten Schloß in Osnabrück betrieben wurde, sich nicht mit dem in Celle messen konnte, so ist er hier wie dort eindeutig französisch bestimmt. Auf Veranlassung der Fürstin Sophie, einer Prinzessin von der Pfalz, wurden beinahe alle Musiker aus Frankreich berufen, allen voran als Tanzmeister Jemmes. In einem Brief an ihren Bruder, den Kurfürsten Carl Ludwig von der Pfalz (reg. 1650-1680) betont sie, daß ihr Tanzmeister gerade aus Paris zurückgekehrt sei und "une très bonne bande de violons, un qui joue de la thuorbe et du lut, et un autre qui chante la base" mitgebracht habe. [11] Der Zweck dieser Ansammlung von französischen Musikern war es offensichtlich, eine gepflegte Tafelmusik zu haben und zusammen mit der ganzen Familie, einschließlich der herzoglichen Kinder, regelmäßig gesellige Musik mit Masken- und Gesangsaufführungen veranstalten zu können.

Am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges herrschte, wie manche Einzeluntersuchungen belegen, beträchtlicher Wohlstand in den Städten. Die Wirtschaftskraft ließ es zu, daß nicht selten auch Katastrophen rasch bewältigt werden konnten. So wütete 1599 in Zittau eine fürchterliche Pest, der fast 3.000 Menschen zum Opfer fielen. Und 1608 brannte ein Drittel der Stadt ab. Dennoch erholte sich die Stadt rasch, die Bevölkerung nahm ständig zu, und der Kleiderluxus sowie das Festleben erreichten einen derartigen Umfang, daß der Rat Verordnungen zur Eindämmung von "Hoffarth und Exceß in Kleidungen" sowie der Dauer von Festen erließ. [12]

Der zunehmende und teilweise ausufernde Wohlstand wurde jedoch zugleich konterkariert vom Wachsen böser Vorahnungen, abergläubisch interpretierter Anzeichen und einer entsprechenden Publikationsflut auf der Ebene der Flugblätter. Besonders Mißgeburten galten als böses Vorzeichen, wurden, wie in Zittau, abgebildet und in langen Gedichten nach Choralmelodien besungen. [13] Eine kriegerische Austragung der Spannungen zwischen Katholiken und Protestanten schien unausweichlich.

Die moderne Musikgeschichtsschreibung hat sich nicht immer die Mühe gemacht, die sozialen Verhältnisse der Musiker zu dokumentieren; wo dies jedoch geschehen ist, zeichnet sich eine gut fundierte Prosperität ab, von der die städtischen Musiker ebenso erfaßt sind wie die höfischen. Schaut man auf Leipzig, so überrascht, daß beinahe jeder zweite Musiker, der zur Zeit des Thomaskantors Sethus Calvisius (1556-1615), eines der bedeutendsten Vorgänger Johann Sebastian Bachs, im Dienste der Stadt Leipzig ständig wirkte, auch ein Häuschen oder gar ein ansehnliches Haus besaß. Mancher von ihnen war sogar in schwunghafte permanente Hausverkaufshändel verwickelt. [14]

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ANMERKUNGEN

1.Epstein 1924, S. 59.
2.Wustmann 1926, S. 193.
3.Abgedruckt in Monatshefte für Musik-Geschichte 9 (1877), S. 235-246. Es werden in ihr drei 'Nationen', nämlich "Teutzsche, Niderlender, Wellische" sowie drei Berufssparten, nämlich "Singer, Instrumentisten vnnd Organisten" unterschieden (S. 236).
4.Becker-Glauch 1951, S. 9. Die italienischen Instrumentisten waren schon 1549 von Moritz von Hessen auf dem Konzil in Trient verpflichtet worden, s. Härtwig 1963.
5.Es fällt auf, daß dabei eine Laute und ein Schachbrett von einem (getauften) Juden an den Hof verkauft wurden (Becker-Glauch 1951, S. 9, Anm. 3). Wenn man bedenkt, daß die Instrumentalmusik am Hofe der Gonzaga in Mantua weitgehend von einer jüdischen banda versorgt wurde, stellt sich die Frage nach einer möglichen jüdischen Vermittlung in bezug auf die Anwerbung von italienischen Instrumentalmusikern nachdrücklich.
6.Sittard 1890, S. 17.
7.Sittard 1890, S. 44.
8.Sittard 1890, S. 44.
9.Sittard 1890, S. 30.
10.A. A. von Lersner, Der Weit-berühmten [...] Stadt Franckfurt am Mayn, Chronica, Frankfurt/Main 1706-1734, hier zitiert nach Epstein 1924, S. 59-60.
11.Bösken 1937, S. 197.
12.Dudeck 1994, S. 32f.
13.Dudeck 1994, S. 33.
14.Wustmann 1926, S. 190-203.

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