WINFRIED SCHULZE Pluralisierung als Bedrohung: Toleranz als Lösung |
Gleichwohl wird jeder Historiker Schwierigkeiten haben, genau jene Gründe und Umstände anzugeben, die zum Durchbruch dieser Bewegung und zu deren politisch-rechtlicher Verankerung geführt haben. Waren es aufgeklärte Fürsten, die den entscheidenden Schritt taten, waren es die Freikirchen und Sektenbewegungen, die die Toleranz notwendig machten, war es eine allgemeine Tendenz der Säkularisierung oder sind vielleicht doch die herausragenden Köpfe der Humanisten und Ireniker zu nennen, die hier den Weg ebneten? Oder waren es einfach nur die Umstände, die Dialektik der Macht, die die Toleranz gewissermaßen als Nebenprodukt hervorbrachten? All diese Antworten bietet uns die ältere und neuere Forschung an, ohne daß wir uns von einer allein überzeugt geben können. Sicher ist, daß der alte konfessionelle Streit zwischen Katholiken und Protestanten um die Toleranz der Reformatoren und damit der reformatorischen Bewegung weit an der eigentlichen Frage vorbeiging.
Daß wir im Kontext der Erinnerung an den Westfälischen Frieden auch die Bewegung zur Toleranz bedenken, hat seinen Grund nicht nur darin, daß der Westfälische Friede im Toleranzartikel der "Geschichtlichen Grundbegriffe" auftaucht, es hat vielmehr einen weiteren Grund. Dieser Friede stellt in der Geschichte der Durchsetzung der Toleranz einen wichtigen Schritt dar, der nicht unterschätzt werden darf, auch wenn dieser sich auf eine wenig spektakuläre Weise vollzog, die theoretisch hinter den Denkleistungen eines Jean Bodin oder eines John Locke zurückzustehen scheint. Die Fixierung genauer Autonomierechte der Untertanen in den Territorien, die präzise Garantie des Auswanderungsrechts und das Prinzip der Parität in der Reichsverfassung durch den Zwang zur itio in partes und die notwendige amicabilis compositio zwischen den konfessionellen Corpora des Reichstags setzten auf der Ebene des Verfassungsrechts neue Grundsätze in Kraft, die eine wesentliche materielle Grundlage für die noch schwierige Toleranz in den Herzen und Köpfen der Menschen bereitstellte. Die Frage nach der religiösen Wahrheit wich der Frage nach der Überlebensfähigkeit und Ordnung des Gemeinwesens. Darüber hinaus konsolidierten sich die Territorialstaaten des Reiches soweit, daß sie ausreichenden politischen Spielraum gewannen, in ihren Territorien Sonderregelungen für Minoritäten durchzusetzen. Aber darüber wird noch genauer zu sprechen sein.
Zugleich wäre es jedoch eine Fehleinschätzung des Westfälischen Friedens, allein in seinen Bestimmungen die entscheidenden Schritte zur Vorbereitung der Toleranz im Heiligen Römischen Reich zu sehen, ja es wäre schon ein begrenztes Verständnis der Frühen Neuzeit, wenn wir das Toleranzproblem allein auf die konfessionelle Problematik begrenzen würden. Der Kampf um die Toleranz als Voraussetzung zur freien Ausübung des eigenen Bekenntnisses scheint mir nur ein - freilich wichtiger - Aspekt eines viel weiter gespannten Problems der nachmittelalterlichen Epoche zu sein, das ich das Problem der Pluralisierung nennen würde.
Unter Pluralisierung möchte ich hier einen für die Neuere Geschichte grundlegenden Prozeß der Erweiterung, Differenzierung, Relativierung und schnellen Erneuerung von politisch-gesellschaftlichen Ordnungen, Wissen, Glauben und Normen verstehen. Dieser Prozeß schien zunächst fast immer bedrohlich, stellte die betroffenen Menschen, die Obrigkeiten, die Interpreten der Zeit vor große Schwierigkeiten. Oft genug überlagerten sich Altes und Neues, nur selten befanden sich Ideen und Gesellschaft in Übereinstimmung. Es macht unser besonderes Interesse an der Frühen Neuzeit aus, die vielfältigen Versuche nachzuzeichnen, in denen die Menschen des 16. bis 18. Jahrhunderts die Neuerungen ablehnten oder sich an die schnelle Veränderung ihrer Lebenswelt gewöhnten, zuweilen auch beide Positionen vermischten, wie sie scheinbar ausweglose Situationen gegenseitiger Blockierung überwanden und neue Perspektiven der Orientierung gewannen. Wo Pluralisierung der Konfessionen zunächst als elementare Bedrohung erschien, stellte die Gewährung oder Vereinbarung von Toleranz - und mochte sie auch begrenzt sein - eine erste Stufe der Lösung dar. In diesem Sinne möchte ich den Titel meines Vortrags verstehen: Pluralisierung als Bedrohung, Toleranz als Lösung, eine Formulierung, die auch für heutige Verhältnisse etwas bedeuten kann.
Dieses Konzept möchte ich einem Deutungsversuch des amerikanischen Historikers Wiliam J. Bouwsma zuordnen. Bouwsma, der sich einer kulturgeschichtlichen Betrachtung im Sinne Huizingas verpflichtet fühlt und durch Studien zu Guillaume Postel und Jean Calvin hervorgetreten ist, untersuchte den Zeitraum zwischen dem Beginn des 14. und der Mitte des 17. Jahrhunderts unter der Perspektive der Angst: "Anxiety and the Formation of Early Modern Culture" war der Titel eines Aufsatzes. Für ihn ergab sich eine im Spätmittelalter beginnende Periode deutlicher Belastung durch Angstvorstellungen. Dies trifft auf verschiedene soziale Schichten zu. Angst scheint eine allgegenwärtige Begleiterscheinung einer in Bewegung geratenen Gesellschaft zu sein, die ihre innere Ordnung verloren hatte und deren Weltbild, deren Normen, deren wirtschaftliche Ressourcen, deren religiöse und sittliche Bindungen zerfielen. In der "dunklen Vision der Renaissance" kulminierte diese Angst, die sich im Bild des nahenden Weltendes am deutlichsten ausdrückte. Bouwsma läßt es nun nicht bei der Feststellung von Angstsymptomen, er geht einen Schritt weiter, indem er nach Anzeichen einer Überwindung der Angst sucht. Solche Anzeichen erkennt er in einer zunehmenden Einsicht in die Realität der Welt, in die wahre, nämlich eigennützige Natur des Menschen, in das reale Funktionieren von Gesellschaft. Die Analyse richtet sich nicht mehr vorrangig auf eine ideale Vergangenheit, die restauriert werden muß, sie konzentriert sich vielmehr auf den tatsächlichen Zustand der Gesellschaft. "Die neue Kultur des modernen Europas", daß der Mensch selbst die Kultur aufbaut und daß sie deshalb das Produkt wechselnder Bedingungen und sich verändernder Bedürfnisse ist."
Die Perspektiven seines Beitrags zielen auf die Sprache, die die "Pluralität der Welten" im philosophisch-astronomischen Sinne beschreiben kann, sei zielen auf die zunehmende Bedeutung des Prinzips wissenschaftlicher Probabilität. Sie zielen aber auch auf die Ordnung der Gesellschaft durch menschliche Bedürfnisse, durch Kompromisse, die Regelung des Staatensystems durch das Prinzip der Balance. Damit entwickelte sich eine Kultur - so wieder Bouwsma - die die "Angst reduzieren" konnte, weil die quantitativen und relativistischen Prinzipien eine Art von Kontrolle über die Zeit bereitstellten. Die Begrenzung des möglichen Chaos durch rechtliche Mittel, durch zunehmende Vorsorge, durch Versicherungen, all dies schuf die Möglichkeit einer neuen Sicht auf die Zukunft, die bislang keine Kategorie des gesellschaftlichen Denkens gewesen war.
Dieses Konzept der Pluralisierung hat auch den Vorteil, eine Perspektive auf die Reformation zu eröffnen, die sich deutlich von jener tragischen Deutung von der "Spaltung der Nation" unterscheidet, mit der uns Leopold v. Ranke letztlich belastet hat. Theodor Schieder war es, der schon 1952 in der Reformation nicht nur den Grund einer verhängnisvollen "Vielzahl von Kirchenbildungen und Bekenntnissen", sondern einen "der mächtigsten Antriebe der neueren Geschichte weit über ihr religiöses Anliegen hinaus" sehen wollte. Spaltung bedeute also Differenzierung, polare Spannung, schöpferisches Leben, dies sei ein Stück jener großen Idee der europäischen Freiheit. Entschließen wir uns zu einer solchen Perspektive, die uns zugleich zu einem zentralen Problem der Moderne führt, der Anerkennung fortwährender Veränderung.
Mit der leidigen Frage nach der Toleranz im letztlich doch aufklärerischen Verständnis nähern wir uns dem konfessionellen Zeitalter unter einer gleichsam anachronistischen Fragestellung. Der Begriff hat in den Schriften der Kirchenväter seine erste Ausprägung erfahren, die noch die Erfahrungen der Christenverfolgung einbezog: Er ist eine "Hervorbringung altchristlicher Latinität", hat Klaus Schreiner formuliert. Augustinus gilt als bedeutendster Vertreter einer grundlegenden Toleranz als Voraussetzung jedes gemeinschaftlichen Lebens, auch gegenüber Häretikern. Doch dieses Gebot zur Wahrung des Friedens ließ sich nicht gegenüber den häretischen Donatisten aufrechterhalten, und so wird der staatlichen Gewalt die Pflicht zur correctio der Häretiker zugesprochen. Gleichwohl gründet sich auf die Augustinische Idee der caritas bis hin zum Vorabend der Reformation die Grundidee einer pluralitas der Bekenntnisse, die freilich in der Rückschau nur als Nebenweg der Entwicklung erscheinen kann. Zu denken wäre hier vor allem an Nikolaus von Cues (1401-64), dessen Einsicht in die Begrenztheit menschlicher Erkenntnis und die Zeitgebundenheit der Regligion wichtige Denkleistungen der Aufklärung antizipierte, ohne daß bei ihm das Wort Toleranz zu finden wäre. Die Hauptlinie orientierte sich eher an der von Thomas von Aquin beschrittenen Richtung, der die Frage "ob Ketzer zu dulden seien", verneinte und damit den Diskurs auch der Reformationszeit bestimmte, auch durch die Einräumung einer begrenzten Duldung, wenn damit ein schlimmeres Übel verhindert werde. Es ist charakteristisch, wenn 1641 Hugo Grotius nachträglich Augustinus seine spätere Wendung zur Verfolgung der Ketzer vorwerfen sollte, hier trafen sich noch einmal die grundlegenden Strategien.
Luther macht es ja überdeutlich, wenn er sagt, daß er keine Ursache sehe, die "gegen Gott die tollerantz möchte entschuldigen", und es macht keine Mühe, einige Zitate zusammenzutragen, in denen von Toleranz eher verächtlich gesprochen wird. Besonders fällt hier jene "apologie d'intolérance ...catégorique" auf, die Calvin 1554 nach der Hinrichtung Servets als Rechtfertigung veröffentlichte.
Beim ersten Herangehen an unsere Frage kann man freilich durchaus Zweifel äußern, ob der Westfälische Friede eine durchgreifende Stärkung des Gedankens religiöser Toleranz bewirkt habe. Man braucht nur in die Reichsstädte des frühen 18. Jahrhunderts zu sehen, in denen eine religiös wachsame Geistlichkeit die Versuche der Stadtpolitiker hintertrieb, den Toleranzgedanken zu stärken. Als die Hamburger Geistlichen es 1717 schafften, ein versöhnlich gestimmtes Gebet des Senats zum Reformationsjubiläum zu hintertreiben hielten sie das für einen wichtigen und notwendigen Sieg: "Gott sei gelobt für diesen Sieg, den reverendum ministerium erfochten hat wider die Lauligkeit in der Religion und wider das Papstthum, und ist solches um der Posterität hierhergesetzt, auch im Hinblick auf die Calvinisten." Das erinnerte fatal an den Glückwunsch Melanchthons an Calvin, als dieser 1553 Michel Servet als Ketzer hatte verbrennen lassen; dies sei ein "frommes und erinnerungswürdiges Exempel für alle Nachkommen." Auch das abschreckende Beispiel der Vertreibung der Salzburger Protestanten von 1731/2 ist hinlänglich bekannt. Für die Reichsstadt Augsburg, in der schon Wilhelm Heinrich Riehl getrennte protestantische und katholische Schweineställe aufgefallen waren, hat Etienne François gar davon gesprochen, daß Katholiken und Protestanten "forment bien deux peuples", die ein untrennbarer, ja immer tiefer werdender Graben bis hin zur Tracht der Frauen trennte, so daß ein Jahrhundert nach dem Westfälischen Frieden die Zahl der katholisch-protestantischen Hochzeiten unter ein Prozent lag. Ein Besucher der Stadt meinte gar, daß man sich eher als Heide, Jude oder Türke denn als Katholik oder Protestant ausgeben müsse, um in der Stadt mit allen Gesellschaft zu pflegen. Und in Straßburg wollte man - so hat uns Bernard Vogler gezeigt - sein Testament zu 90% natürlich bei einem Notar der eigenen Konfession machen.
So scheint es zunächst einen Widerspruch zu geben zwischen einer jubiläumsfreudigen gleichsam Münsteraner Deutung des Westfälischen Friedens und einem oft enttäuschenden Blick in die Praxis des konfessionellen Neben- und oft genug Gegeneinanders noch im 18. Jahrhundert, wo gerade die Aufklärungsbewegung ihr Hauptziel im Kampf gegen die Intoleranz sah. Es macht den Reiz des heutigen Themas aus, diesen scheinbaren Widerspruch aufzuklären.
Ich will Ihnen das Thema der Toleranz aber nicht als eine leuchtende Erfolgsgeschichte präsentieren, an deren Ende die Aufklärer des 18. Jahrhunderts - und hinter ihnen dann wir selbst - überlegen lächelnd auf die konfessionellen Eiferer - die Zeloten - des 16. und 17. Jahrhunderts herunterschauen. Wir erleben zu oft noch im 20. Jahrhundert Konflikte, die mit der gleichen Schärfe, Unduldsamkeit und Grausamkeit geführt werden, die uns aus dem 16. und 17. Jahrhundert vertraut sind, als ob wir uns dies anmaßen dürften. Jede Form der historischen Besserwisserei würde einem solchen Verstehen- und Erklärenwollen entgegenstehen. Die Frage nach der Toleranz muß zugleich die Frage nach den Gründen für ihre Nichtexistenz sein.
Die heutige Themenstellung legt es nahe, die Untersuchung auf das Problem der religiösen Toleranz zuzuspitzen, obwohl damit längst nicht alle Bereiche benannt sind, in denen es der Entwicklung von Toleranz bedurfte. Die europäische Entwicklung hat es so gefügt, daß wir den Toleranzbegriff lange Zeit in seiner konfessionellen Variante gesehen haben, und darüber die Ausdehnbarkeit des Begriffs auf andere Formen des Dissenses, der Alterität und sozialer Ausgrenzung beinahe übersehen haben. Auch diese Einsicht legt es nahe, das Toleranzproblem in ein weiteres Umfeld einzuordnen, das die Situation der menschlichen Erfahrungen und die Bereitschaft zur Aufnahme des Neuen, des Unvertrauten, des Anderen mit in die Untersuchung einbezieht.
Ganz in diesem Sinne will ich mich dem Thema auf eine zunächst eher ungewohnte Weise nähern.
Im Jahre 1567 erschien in Straßburg die deutsche Übersetzung eines ursprünglich lateinischen Werkes über die Geschichte der skandinavischen Völker. Es trug den zeitüblich komplizierten Titel: "Beschreibung allerley Gelegenheyte / Sitten / Gebräuchen und Gewonheiten / der Mitnächtigen Völcker in Sueden / Ost und Westgothen / Norwegen unnd andern gegen dem eussersten Meer daselbst hinein weiter gelegenen Landen." Dieses Buch war die deutsche Übersetzung eines von dem schwedischen Bischof Olaus Magnus verfaßten Werkes, das den Mitteleuropäern zum erstenmal einigermaßen sichere Nachrichten von den Lebensbedingungen und Sitten, Tierwelt und der Geschichte der nordeuropäischen Völker vermittelte. Geschrieben in der Absicht, der Marginalisierung Nordeuropas durch den italienischen Humanismus entgegenzuwirken, prägte das Werk die europäischen Kenntnisse über Nordeuropa bis weit in das 17. Jahrhundert.
Doch es geht hier nicht um den reichen Inhalt des Buches. Erstaunen erregt zunächst einmal die Vorrede des Übersetzers, eines Pfarrers mit Namen Israel Achatius aus Weissenburg. Man könnte meinen, er würde den Leser erst einmal mit den Vorzügen des Buches vertraut machen, das neue Informationen über bislang so gut wie unbekannte Regionen Europas anbot. Dem Pfarrer war jedoch etwas anderes viel wichtiger: Er machte den Leser erst einmal mit den verschiedenen Theorien der Erschaffung der Welt vertraut. Er verwarf natürlich die atomistisch-heidnischen Theorien der Antike ebenso wie die Auffassung, die Welt habe weder Anfang noch Ende oder es gebe unnendliche viele Welten: "Aber also muß es gehen, wenn man solche hohe geheymnuß / mit menschlicher vernunffte messen / und das wort Gottes ... nit haben und hören will." Er bestätigte letztendlich die lenkende Hand Gottes bei der Erschaffung der Welt. Solche Überzeugung tue auch not, so argumentierte er, wenn man sich die ungeheure Verschiedenheit der Menschen, der Orte, der natürlichen Lebensbedingungen, der Luft, des Wassers, der Tiere, aber auch der Ordnungen, Gesetze, der Kleidung und Sitten betrachte: "selzam verenderung" müsse der erste Eindruck von dieser verschiedenartigen Welt sein.
Aber selbst diese so unterschiedliche Welt, so versicherte er, sei von Gott gemacht, sie müsse in ihrer verwirrenden, aber gottgewollten Unterschiedlichkeit hingenommen werden. Was der protestantische Pfarrer hier zu erklären suchte, war letztlich die "Vicissitude ou varieté des choses en l'univers", wie der Titel einer bekannten französischen Schrift aus der gleichen Zeit (1575) lautet (Louis LeRoy). Diese hier thematisierte "selzam verenderung" oder "vicissitude des choses" bereitete den Zeitgenossen offensichtlich große mentale Schwierigkeiten, die der Pfarrer zu beruhigen suchte. Angstgefühle vielfacher Art überlagerten sich und verstärkten sich noch gegenseitig, nicht zuletzt die Angst vor dem immer wieder heraufbeschworenen Ende der Welt war der fruchtbare Nährboden der Unduldsamkeit gegenüber jenen, die vom rechten Weg des Glaubens abzuweichen schienen. Mir scheint die hier geäußerte Wahrnehmung einer sich differenzierenden Welt ein Symbol für die Problemlage des 16. und 17. Jahrhunderts zu sein.
Beobachtungen dieser Art erlauben zunächst einmal den einfachen Schluß: Das 16. Jahrhundert hatte eine ungeheure Erweiterung des menschlichen Gesichtskreises gebracht, neue Erdteile waren ebenso entdeckt worden wie neue Sternenwelten, fremde Lebewesen hatte man wahrgenommen, deren Einordnung in die menschliche Rasse Schwierigkeiten bereitete, eine enorme Differenzierung des Wissens begann sich durchzusetzen, die "Pluralität der Welten" wurde zum Problem wissenschaftlicher Diskussion. Sebatian Franck trug den neuen Kenntnissen schon 1534 in seinem "Weltbuch" Rechnung, das den verwirrenden Untertitel trug: "Spiegel und bildtnis des gantzen erdbodens...in vier bücher nemlich Asiam, Aphricam, Europam und Americam gestelt und abteylt, auch aller darinn begriffener länder, nation...gelegenheit, ...gewächs ...und darinn gelegener völcker gestalt, leben, wesen, religion, glauben, ceremonien, gsatz, regiment, sitten, brauch, frucht, thier, kleydung und veränderung, eigentlich für augen gestelt. Auch etwas von newgefundenen welten und inseln." Der Goldschmied Wolfgang Vincentz fragte sich 1564 (?) in seiner Autobiographie, "ob die Erfindung dieser seltsamen Länder als eine göttliche Ermahnung und Aufforderung anzusehen wäre, einander auf den jüngsten Tag vorzubereiten."
In der politischen Sprache des 16. Jahrhunderts unter dem Eindruck der reformatorischen Kämpfe liest sich diese Grundeinsicht ganz anders und viel bedrohlicher: "Gott sei uns gnädig! Ich sorg, es sei eine große mutation vor augen, sunderlich der höchsten heupter", schrieb der hessische Rat Gereon Sailer nach Unterredungen mit dem bayerischen Kanzler Eck im September 1546 an seinen Herrn, den Landgrafen Philipp von Hessen, und er befürchtete, "der herr hat vor ein große enderung unter den hohen potentaten zu machen."
Doch auch die Relativierung der einen Wahrheit zu vielen Wahrheiten fand die Aufmerksamkeit zeitgenössischer Beobachter: "In nichts zeigt die Welt eine solche Vielgestaltigkeit wie in Sitten und Gesetzen: es gibt Dinge, die hier als verabscheuenswert gelten und anderswo als empfehlensert, wie in Sparta die Gewandtheit zum Stehlen; bei uns sind Ehen unter nahen Verwandten streng verboten, in anderen Ländern bringen sie Ansehen." So urteilte Michel de Montaigne, und seinem Landsmann Pascal sollte wenig später auffallen: "Diesseits der Pyrenäen Wahrheit, jenseits Irrtum." Leicht ließe sich diese Beobachtung auf das konfessionell gespaltene Reich übertragen.
Diese hier angesprochene Wahrnehmung der "Veränderung" und "Pluralisierung" der Erfahrung war zunächst einmal Aufgabe der Wissenschaft, die tradierte Lehrmeinungen zu korrigieren hatte, was schwierig genug war, wie wir aus den Erfahrungen der Kopernikus, Kepler, Bruno und Galilei wissen. Die Veränderungen trafen aber auch die einfachen Menschen, für die die neue Welt zumindest unverständlich, zuweilen auch eine Bedrohung war. Es ist dies die Voraussetzung für eine Stufe der Wahrnehmung des Fremden und Neuen in Europa zu Beginn der Frühen Neuzeit, die über die bislang tradierten Praktiken zur Wahrnehmung fremder Völker hinausreichte, zumal die Neuigkeiten jetzt auch per Druck breiteren Schichten zugänglich gemacht werden konnten. Das Dilemma des 16. Jahrhunderts aber besteht darin, daß es nicht nur die Erfahrungen neuer Welten und fremder Lebewesen, neuen Wissens und schneller Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft waren, die die Menschen bedrohten, sondern auch die Erfahrung des fundamentalen Dissenses über das Bekenntnis zu Gott zu verkraften war. Anders als in der Ketzerproblematik des späten Mittelalters, als die Anwendung des Ketzerrechts gerade die Gültigkeit der tradierten Ordnung bestätigte, lief jetzt das Ketzerrecht ins Leere, ja es mußte im Religionsfrieden von 1555 sogar dezidiert außer Kraft gesetzt werden.
Damit nähern wir uns dem eigentlichen Thema. Wenn das Problem der Toleranz im 16. Jahrhundert der deutschen Geschichte zum Thema gemacht wird, so werden gemeinhin eine Reihe von Einzelfragen angesprochen, um das Thema näher zu bestimmen. Zum einen wird die prinzipielle religiöse Intoleranz der konfessionellen Parteiungen und ihrer Wortführer betont, zweitens wird die besondere Wirkung der humanistisch-erasmianischen Friedenskonzeption erforscht und gewürdigt, drittens wird auf Ausnahmeerscheinungen wie Sebastian Franck oder Sebastian Castiello verwiesen, viertens wird im System der konfessionellen "Friedstände" und des Augsburger Religionsfriedens nach Ansätzen der Toleranz gesucht, fünftens werden ökonomische Motive territorialer Konfessionspolitik analysiert, wenn etwa katholische Landesfürsten im späten 16. Jahrhundert noch Täufer als unverzichtbare Leistungsträger in der Wirtschaft und in der Verwaltung ihrer Territorien duldeten. Sechstens erfolgt der Hinweis auf eine neue "politische" Begründung der Toleranz, wobei das Adjektiv "politisch" hier als ein Derivat der französischen "politiques" zu verstehen ist, also jener Gruppe von Juristen, die um der Erhaltung der französischen Monarchie willen bereit waren, die Duldung der "religion prétendu réformée" hinzunehmen. Michel de l'Hôpital hatte bekanntlich 1561 die Generalstände gemahnt, der König wünsche nicht, daß sie sich über die bessere Auffassung stritten, denn es handele sich hier nicht de constituenda religione, sondern de constituenda republica. Und siebtens schließlich ist es der Blick auf die erzwungene Praxis des konfessionellen Zusammenlebens in einigen Reichsstädten und Territorien, das gerade in den letzten Jahren das Interesse der Historiker gefunden hat. Hier sprachen die Reichsjuristen in Speyer übrigens vom tolerare duas religiones.
Diese sieben Punkte dokumentieren somit auch die "fortschreitende Vervielfachung der Argumente, wobei sich die Schwerpunkte allmählich aus dem religiös-theologischen Bereich in die Sphäre säkularisierter Gedanken und Beweisführung verschieben", wie dies unser verstorbener Basler Kollege Hans R. Guggisberg zuletzt beobachtet hat, der ein gut Teil seines Werkes dem Toleranzproblem im konfessionellen Zeitalter gewidmet hat.
Wenn wir den Toleranzbegriff in seiner aufklärerischen Definition, die heute für seine Verwendung bestimmend geworden ist, auf das 16. Jahrhundert anwenden, so wird einem solchen Verfahren oft genug der Vorwurf eines Begriffsanachronismus gemacht und damit unterstellt, das 16. Jahrhundert habe noch keinen Begriff von Toleranz gekannt. Deshalb soll zunächst der Toleranzbegriff des 16. Jahrhunderts bestimmt werden, der natürlich eng mit der Situation der Zeit und ihrer noch neuen Konfrontation differierender Bekenntnisse verbunden ist. Er scheint zum erstenmal von Martin Luther selbst verwendet worden zu sein, der in seiner Reaktion auf das Bemühen des Regensburger Reichstages von 1541 um eine theologische Einheit von Katholiken und Protestanten die deutsche Version von tolerantia gebrauchte. Nach einem durchaus hoffnungsvollen Beginn der theologischen Vergleichsverhandlungen ging es darum, ob die verbleibenden Differenzen durch eine reichsrechtlich garantierte befristete Duldung der abweichenden Positionen beigelegt werden könnten. Martin Luther reagierte in einem Brief vom 12. Juni auf diesen Diskussionsstand und meinte, eine solche "tollerantz" könne nichts taugen, weil sie die Duldung eines wissentlichen Irrtums bedeute: "Ich kan auch nit bedenken, daß einiche ursach vorhanden sey, die gegen got die tollerantz möchte entschuldigen. Die Kinder mögen schmutzig sein, aber das Bad muß zumindest rein und nicht verunreinigt sein."
Das Ziel der Regensburger Verhandlungen war bekanntlich die Concordia der Konfessionen. Damit ist der Begriff erwähnt, der wie kein anderer das Grundproblem des 16. Jahrhunderts widerspiegelt, das die elementare Eintracht verloren hatte und mit der realen Zwietracht konfrontiert war, ohne dafür jedoch schon die notwendigen politischen und mentalen Instrumente zu besitzen. Dabei ist der Zusammenhang zwischen Concordia/Discordia und der Toleranz so zu sehen, daß es der Akzeptanz der Zwietracht bedurfte, um zur Toleranz fähig zu sein. Bei weiterhin geltendem Concordiagebot im traditionellen Sinn war Toleranz nicht denkbar.
Es ist nun das Ergebnis schon der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, daß der Concordiabegriff gespalten wurde. Wieder ist hier Martin Luther anzuführen, der in seiner Reaktion auf die Friedensschrift des Erasmus von Rotterdam De sarcienda ecclesiae condordia deque sedandis opinionum dissidiis, die 1534 von Capito mit "Von der Kirchen lieblicher verainigung" übersetzt worden war, eine Zweiteilung der Concordia vorgenommen hatte. Er unterschied eine concordia fidei von der concordia caritatis. Letztere sei auch das Ziel seiner Bemühungen, doch beziehe sie sich nur auf den politischen Umgang der Konfessionen. Entscheidend aber sei die Frage des Glaubens, denn man könne nicht mit undeutlichen Worten von den zentralen Widersprüchen ablenken. Die concordia caritatis sei eigentlich unerträglich für das Gewissen und die Wahrheit des Glaubens.
Diese Differenzierung Luthers war gewissermaßen programmatisch für die Verurteilung eines politischen Friedens in dem schwebenden konfessionellen Konflikt. Martin Bucers Äußerungen aus dem Jahre 1545 über einen "satten Frieden", d.h. einen Frieden auch in Fragen der Lehre bzw. einen "glesernen", ungöttlichen und bloß "äußeren" Frieden, der nur auf einen politischen Kompromiß ziele, belegen die mangelnde Bereitschaft auf Seiten der Reformatoren zu einem politischen Frieden. Trotz dieser Haltung war es gerade im politischen Bereich die wachsende Neigung zu einer Trennung von "vergleichung der religion" und "friedstand in der religion", der schon in den zwei Jahrzehnten vor 1555 die Bemühungen vor allem der konfessionsneutralen Stände prägte, die sich mit dieser Politik letztlich auch durchsetzten. Damit, d.h. mit dieser Aufspaltung des Concordiabegriffs, war eine wichtige Voraussetzung für eine Haltung erreicht, die wir als die prinzipielle Bereitschaft zur Toleranz bezeichnen können. Die Legitimierung der Zwietracht als politischer Lebensform ermöglichte erst die Toleranz. Insofern kommt dem Augsburger Religionsfrieden als dem Vertragswerk, das die konfessionelle Zwietracht reichsrechtlich verankerte, besondere Bedeutung für die Entwicklung des Toleranzdenkens zu.
Die Einzelheiten dieses Friedens sind bekannt und brauchen hier nicht wiederholt zu werden. Wichtiger Grundzug des Friedens ist zunächst - bei bemerkenswerten Ausnahmen - die Tendenz zur Territorialisierung der Konfession, so wie dies schon im Abschied des Speyerer Reichstags von 1526 als Lösungsmöglichkeit angedeutet worden war und wie es zu Beginn des 17. Jahrhunderts in dem Satz "Cuius regio, eius religio" beschrieben wurde. Sein zweites Charakteristikum liegt in seiner durchgehenden Verrechtlichung des Konfessionsproblems, das damit die Religion dem Rechtsgebot unterwarf.
Dieser Frieden scheint in seinen konkreten Bestimmungen eigentlich keinen Ansatzpunkt für Toleranzdenken zu bieten, da ja bekanntlich ein Vorstoß protestantischer Fürsten auf völlige Freigabe der Konfession der Untertanen beider Religionsparteien von der katholischen Mehrheit strikt abgelehnt worden war und die declaratio Ferdinandea schnell in Vergessenheit geriet. Als Ausgleich für dieses Festhalten am Territorialprinzip ist dann bekanntlich im Regligionsfrieden das ius emigrandi verankert worden. Neben der eben schon erwähnten prinzipiellen Bedeutung des Religionsfriedens als Sanktionierung der Zwietracht als neuer politischer Lebensform scheint dieses Abzugsrecht der Untertanen für unseren Zusammenhang von besonderem Interesse zu sein. Es ist wohl richtig, daß die katholische Mehrheit des Fürstenrats, die diesem Ausweg schließlich zustimmte, nicht von Toleranzüberlegungen geleitet wurde. Sie fürchtete vielmehr einen Zustand der Territorien, "so man einen acker mit vermengter saat wolle besamen," die Unordnung also. "Wo im Land getrennte Religionen sind, da habe man getrennten Frieden" und "können Spaltungen und Friede als widerspenstige Dinge in Ruhe und Frieden nicht beisammen hausen." Dies ist der Hintergrund der Einräumung des Abzugsrechtes im Religionsfrieden.
Trotz dieser dominierenden Tendenz einer bloß funktionalen, d.h. nur auf Ruhe und Ordnung bezogenen Argumentation der Stände, muß das ius emigrandi letztlich doch so gewürdigt werden, wie dies zuletzt Martin Heckel getan hat, damit ältere Interpretationen korrigierend. Er hat auf die Bedeutung des beneficium emigrandi verwiesen, das im Frieden als Auswanderungsrecht der Untertanen "unter Garantie ihres Eigentums und eines Ablösungsrechts der Leibeigenschaft" fixiert wurde. Heckel hat dies - bei aller realen Begrenztheit dieses beneficiums - als "das erste allgemeine Grundrecht, das das Reich durch das geschriebene Verfassungsrecht jedem Deutschen garantierte" gewertet, eine starke Wertung, ohne jeden Zweifel, die jeden, die die Reichskammergerichtsprozesse des späten 16. Jahrhunderts um dieses vermeintliche Grundrecht kennt, zumindestens überraschen wird. Gleichwohl läßt sich hier am ehesten jene elementare Dialektik aufzeigen, die die deutschen Angelegenheiten im 16. Jahrhundert prägte: Wenn man die eigenen Untertanen im fremden Gebiet schützen wollte, mußte man sich auf dieses Prinzip einlassen, auch wenn man eigentlich strikt dagegen war. Fritz Dickmann, dem wir das große Buch über den Westfälischen Frieden verdanken, hat deshalb davon gesprochen, daß der Gedanke der Verpflichtung des Staates zur Toleranz nicht aus der Toleranzidee selbst entstand, sondern aus der "Rivalität der beiden großen Konfessionen."
Für unseren Zusammenhang scheint mir wichtig zu sein, daß im Kontext der Auseinandersetzungen um den Augsburger Religionsfrieden auch im Reich Argumentationen entwickelt wurden, die mir durchaus jenem Prozeß vergleichbar erscheinen, der von Reinhart Koselleck für den westeuropäischen Absolutismus beobachtet wurde. Gemeint ist damit jene charakteristische Trennung zwischen dem gehorsamen politischen Untertanen, der als solcher die Gesetze befolgt und seine Steuern zahlt, und dem religiösen Subjekt, das so der dissentierenden Meinung fähig wird und sich einen staatsfreien, "privaten" Innenraum schaffen kann. Es war dies bekanntlich eine entwicklungsfähige Lösung der konfessionellen Konflikte, die Europa zwei Generationen lang erschüttert hatte.
Im Gegensatz nun zu der theoretischen Lösung, wie sie von Reinhart Koselleck am Beispiel von James Barclay und Thomas Hobbes analysiert wurde, bietet die Konfessionsgeschichte des Reiches genügend Möglichkeiten, um diesen Vorgang der "Aufspaltung des Menschen" in der historischen Praxis zu beobachten. Ausgehend von der Interpretation des Augsburger Religionsfriedens, die im ius emigrandi ein beneficium sah, das in das Belieben der Untertanen und nicht der Obrigkeiten gestellt war, beharrten die protestantischen Reichsstände auf der Auffassung, daß - falls protestantische Untertanen "sich sonsten aller schuldigen Gebühr in politischen Sachen gegen ihrer ordentlichen Obrigkeit verhalten" - man ihnen die Möglichkeit des Bleibens geben und auf die Ausweisung verzichten müsse, die ansonsten als die legitime Kehrseite des ius emigrandi betrachtet wurde. In einer Supplikation der protestantischen Minderheit der katholisch gebliebenen Reichsstadt Köln läßt sich die von Koselleck angenommene Aufspaltung vorzüglich belegen, wenn diese Bürger "ihre häuslichen Beykünffte" - die man ihnen als verbotene Versammlungen "zu empörung und aufhebung politischer Ordnung" vorgeworfen hatte - als lediglich private Kultusausübung bezeichneten. Diese Bürger baten flehentlich 1567 um einen festen Ort zur Ausübung ihrer Religion und versprachen dafür der städtischen Obrigkeit, wie bisher allen Gehorsam leisten zu wollen, ja sie schworen sogar, "zu keiner auffruhr und veränderung politischer Ordnung gesinnet" zu sein. Dieses Argument wurde auch in die Interzessionsschriften einiger protestantischer Fürsten an den Erzbischof von Köln aufgenommen und wurde so politisch genutzt.
Auf der Ebene des Reichskammergerichts dienten die Kölner Konflikte als Anlaß für ein vertieftes Nachdenken über die Möglichkeiten, den Aporien von 1555 zu entkommen. Der Reichskammergerichtsassessor Dr. Sigismund Buchner entwickelte im November 1588 im Rückgriff auf die generelle Friedensregel des Augsburger Religionsfriedens sogar den Gedanken einer Verpflichtung der Obrigkeit zur Gewährung der Gewissensfreiheit, "da diese Kölner Bürger nicht die öffentliche Ausübung oder gar die Einrichtung ihrer Konfession für sich in Anspruch nähmen, sed solummodo pro sua persona libertatem conscientiarum ... petant". Eine Verweigerung dieser libertas - oder sollte ich doch schon Grundrecht sagen ? - stelle ein schweres Unglück für diese Bürger dar. Dessen Vermeidung sei um so wichtiger, als ein Stand ohne seine Untertanen gar nichts bedeute, quia subditi sunt nervi et membra statuum. Hier zeigt sich zunächst eine interessante Eigendynamik rechtlichen Argumentierens: Zunächst sucht man nach einem übergeordneten Prinzip, das als Grundprinzip des Friedenswerkes gesehen werden kann, dann wird der kontroverse Fall in das Licht dieses Axioms gestellt, so daß schließlich eine rechtliche Deutung herauskommt, die durchaus einer Einzelbestimmung des Religionsfriedens widersprechen kann. Außerdem zeigt sich hier erneut, daß der Austrag politischen Dissenses unter dem Verrechtlichungsdruck des späten 16. Jahrhunderts im Reich eine politisch gehaltvolle Debatte über politische Normen eröffnete, die den Vergleich mit der westeuropäischen Politikdiskussion nicht zu scheuen braucht.
Ein eindrucksvolles Zeugnis der hier sichtbar werdenden Fähigkeiten zur Trennung zwischen dem schuldigen politischen Gehorsam des Bürgers und seiner Berechtigung zum privaten Bekenntnis liefert uns die Erklärung des Augsburger Stadtbaumeisters Elias Holl, der 1631, als ein Mandat des katholischen Rats seiner Heimatstadt den Besuch katholischer Predigten forderte, seinen Ungehorsam diesem Mandat gegenüber ankündigte. Zwar erkenne er sich schuldig, seiner Obrigkeit wie bisher gehorsam zu sein, doch könne diese Pflicht nicht für den Besuch der Predigt gelten: "Weiln aber Jeziger Zeit, daß Kirchen gehn und die Bäbstischen Predigen anzuhören, mein Gewissen betrifft, vnd ein glaubens Sache ist." Er unterzeichnete diesen Brief "In Röm: Kay: May: gehorsam vnd vnderthänigkait so wol auch Meiner Obrickait In allen politischen Sachen", um noch einmal den für ihn bedeutsamen Unterschied zwischen Bekenntnis und politischer Ordnung zu betonen. Wenn diese Erklärung auch erst aus dem Jahre 1631 stammt, so ist sie doch ein Zeugnis dafür, daß in der Erfahrung des Zusammenlebens der Konfessionen, wie es in der paritätischen Reichsstadt Augsburg seit 1555 die Regel war, ein neues Bewußtsein für die Ausgliederung des Bekenntnisses aus dem politischen Verhaltenskanon entstanden war. Die Erfahrungen jener Reichsstädte, die mit zwei "Konfessionen in einer Stadt" leben mußten, sprechen bei aller Konflikthaltigkeit für eine solche Deutung. So läßt sich also in den Auseinandersetzungen um die Realisierung des Augsburger Religionsfriedens ein verborgener Zug zur Säkularisierung der Konfession erkennen. Die komplizierte Herrschaftsschichtung im Reich, die aus Gründen der ratio status erforderliche Duldung anderer Konfessionen stärkte die Individualisierung der Konfession und bot auch Anlässe zur Forderung nach völliger "Freistellung" der Konfession, worüber noch zu sprechen sein wird.
Es ist vielleicht angemessen, die Würdigung der Forderung auf Freistellung nicht mit jener Reserve zu beginnen, die sich die Forschung normalerweise auferlegt, wenn sie die Grenzen dieser Freistellung - also ihre Begrenzung auf die beiden Reichskonfessionen - hervorhebt. Vielmehr soll an den zeitgenössischen Reaktionen auf die Forderung der "allgemeinen Freistellung" gezeigt werden, welche Ungeheuerlichkeit hier von einigen wenigen protestantischen Vertretern gefordert wurde. Am besten vermag uns hier die berühmte Autonomia-Schrift des Reichshofrats Andreas Erstenberger aus dem Jahre 1586 einen Eindruck zu vermitteln, die wohl bekannteste katholische Schrift gegen alle denkbaren Versionen einer Freistellung. Es ist dabei zunächst daran zu erinnern, daß in der Diskussion post 1555 der Begriff "Freistellung" höchst unterschiedliche Inhalte haben konnte. Erstenberger unterschied in seinem Traktat insgesamt fünf Versionen dieses Begriffs, wovon die ersten vier Arten spezifische Forderungen im Hinblick auf Bestimmungen des Religionsfriedens darstellten (geistlicher Vorbehalt, Ferdinandeische Deklaration), die uns hier nicht näher zu interessieren brauchen. Wichtig scheint zunächst die allgemeine Diskreditierung des Freistellungsbegriffs durch Erstenberger, wenn er schreibt, "also daß autonomia oder die Freystellung anders nicht ist, dann ein freye Willkür und macht anzunemen zuthun zuhalten und zu glauben, was einer selbst wil und ihme gut dünckt oder gefellig ist." Aus der gesamten Argumentation Erstenbergers, aber auch anderer katholischer Publizisten wird klar, daß der Gedanke einer Freistellung der Religion als völlig unvereinbar mit einem ordentlichen Regiment angesehen wurde, da "sie eben in deme und dardurch alle Ordnung gentzlich aufheben." Von daher - und auch aus der Sicht der zeitgenössischen politischen Theorie (z.B. Justus Lipsius) - kann kein Zweifel an der generellen Ablehnung einer Freistellung bestehen. Allein die Heftigkeit der Reaktionen auf Forderungen einer solchen individuellen Freistellung zeigt, daß mit diesem Vorschlag nicht nur die Hinnahme der jeweils anderen der beiden Konfessionen gemeint war, sondern daß hier zu Recht ein entscheidender Einbruch in das Autoritätsgefüge von Kirche und Reich vermutet wurde: "...die gantze Respublica unnd uhralte herrliche Ordnung und Harmonie deß heiligen Römischen Reichs, als so auff zwayerlay Ständt und glider, Geistlich und Weltlich, wie die Confessionisten selbs offentlich bekennen, fundirt und gegründet ist, (wirdet) zerrissen und labefactirt..."
Freistellung, autonomia, wurde also prinzipiell als eine Gefährdung der gegebenen Ordnung angesehen. In gewisser Weise wird dies bestätigt durch die Freistellungsschrift eines anderen katholischen Autors, der unter dem Begriff der Freistellung eine sozial offene Besetzung der geistlichen Pfründen forderte. Wohl im Rückgriff auf Forderungen, die während des Trienter Konzils erhoben worden waren, wandte sich die Schrift des Andreas Dorkenius aus dem Jahre 1576 gegen die übliche Reservierung dieser Stellen für Adelige und forderte, sie für gelehrte Männer aus allen Volksschichten zu öffnen. Auch dies unterstreicht noch einmal das Potential an Umsturz und Unordnung, das dem Begriff der Freistellung beigemessen wurde.
Um so mehr müssen dagegen jene Positionen auffallen, die nun Toleranz und Freistellung forderten und als notwendige Voraussetzungen einer neuen "ainigkeit" im Reich erkannten. Der kaiserliche Feldherr Lazarus von Schwendi ist hier zunächst als ein politischer Vertreter der Toleranz zu nennen, der sich der Neuerung seiner Forderung durchaus bewußt war, wenn er 1574 schrieb: "Und ob wol solche Toleranz beiden Religionen nicht die rechte Regel und der ordinari weg in den Regimenten ist ...sondern... allein ein Nothweg und Aufenthalt gemeinen wesens und friedens ..." Zu nennen sind hier aber auch jene Forderungen nach einer untertanenfreundlichen Interpretation der umstrittenen ius-emigrandi-Bestimmung des Religionsfriedens. Wieder kommt es mir hier auf den erwähnten Gesichtspunkt der "modernen" Aufspaltung des Menschen an, und deshalb zitiere ich nur eine Passage aus dem "Kurtzen Bericht und Anzaig, daß die Bedrangnis unnd beschwerungen so den Underthanen, die sich zu der Lehr der Augsburgischen Konfession bekennen...", wo es heißt: "Derwegen und wover den Stenden ires gemeinen vatter lands hail und wolfart von hertzen angelegen, hoch von nöten, daß obberürte ursachen dieses mißtrauens, nemblich die bedrangnuß und verjagung der jenigen, so sich zu der augsburgischen Confession bekennen, unnd ihrer ordenlichen Obrigkeit inn Politischen sachen den schuldigen gehorsam laisten, sich auch sonsten ihres thails dem Religionsfriden gemeß verhalten, unvertrieben sambt weib unnd Kinder bey Hauß und Hof gelassen werden, Bevorab so sich ainig Exercitium publicum Religionis nit sonder allein die Freyheit ihrer Gewissen begern."
Mir scheint aus Quellenbelegen dieser Art die Notwendigkeit zu resultieren, in der spezifischen Lösung der konfessionellen Konflikte im Reich nicht nur eine aus politischem Kalkül vereinbarte "Gleichberechtigung" der Konfessionen, sondern zugleich einen starken Impuls für eine Toleranz, die von der individuellen und deshalb nicht hinterfragbaren Glaubensentscheidung ausging, zu sehen. Fritz Dickmann stellte fest, daß das Sicherheitsbedürfnis der Reichsstände "ganz von selbst" der persönlichen Gewissensfreiheit zugute kam.
Die bislang erbrachten Belege für den Zusammenhang zwischen der Aufspaltung des Concordiabegriffes und der Bereitschaft zur Toleranz haben gezeigt, daß der Komplex der Friedensordnung von 1555 und ihrer Konsequenzen sich für unsere Fragestellung als außerordentlich fruchtbar erweist. Die einmal gesehene, wenn auch nicht geöffnete Tür der Freistellung erwies sich als erweiterungsfähiges Einfallstor in das bislang gewahrte Prinzip der konfessionellen Einheitlichkeit der Territorien.
Daneben ist auch noch auf die eingangs erwähnte Gruppe "politisch" argumentierender Toleranzbegründungen hinzuweisen, die wir auch im Reich des späten 16. Jahrhunderts ausmachen können. Auf die Freistellungsforderungen eines Lazarus von Schwendi wurde schon hingewiesen; für ihn bestand die naheliegendste Lösung des Konflikts in einem bewußten Ausbau des Friedenswerks von 1555. "Also soll und mag er jetzo gleichergestalt durch dieselben (die Stände) weiter erklert, verbessert und versichert werden." Konkret bedeutete dies für Schwendi, wie er in seinem Gutachten für Kaiser Maximilian von 1574 ausführte, "dass also kein ander verhoffentlicher weg und mittel, <dann wie="" es="" die="" zeit="" selbst="" treibt="" und="" aufmachet,="" kann="" an="" die="" hand="" genommen="" werden=""> dann die befriedung der gemüther und gewissen und eine gleichmässige, gesammte und mit gemeiner autoritet verpflichte und zugelassene toleranz beider religionen" eine Lösung des Konflikts im Reich herbeiführen. Freilich wollte Schwendi diese Lösung auf die katholische und die Augsburgische Konfession begrenzt sehen, aber die Angehörigen dieser Bekenntnisse sollten - wo immer sie wohnten - Gewissensfreiheit genießen, "da er (der Untertan) sonsten in gehorsam lebt." Seit 1563 schon hatte sich Schwendi - so belegt sein Briefwechsel mit Herzog Heinrich d.J. von Braunschweig-Wolfenbüttel - den Gedanken der Toleranz geöffnet, zweifellos angeregt durch die französische Entwicklung. So war aus dem Kriegsmann, der im Auftrag des Kaisers 1552 noch an der Belagerung Magdeburgs teilgenommen hatte, dem Manne, der die "Lutherey" mit Rebellion identifiziert hatte, ein Politiker geworden, der um des inneren Friedens und um der staatlichen Existenz willen die Gewissensfreiheit propagierte.
Einen anderen Vertreter dieser politisch argumentierenden Toleranzideen können wir in Zacharias Geizkofler sehen, dem Reichspfennigmeister der Jahre 1589-1604. Dieser hohe Reichsbeamte protestantischen Bekenntnisses, dem in den genannten Jahren die Einbringung, Verwaltung und teilweise auch die Vorfinanzierung der Reichshilfen auf dem Kapitalmarkt oblag, war zwar immer im Einflußbereich des Hauses Habsburg tätig gewesen, doch seine engen Beziehungen zum Patriziat der Reichsstadt Augsburg und zu vielen Reichsständen auch der Augsburgischen Konfession hatten seinen Horizont beträchtlich erweitert. Ein intensiver Briefwechsel mit politisch verantwortlichen Persönlichkeiten ließ ihn ein klareres Bild von den Problemen seiner Zeit gewinnen, als dies vielen seiner Zeitgenossen möglich war. Hinzu kommt, daß er als protestantisches Mitglied der Reichsritterschaft selbst die Vorteile des Augsburger Religionsfriedens in Anspruch nehmen konnte und von daher prädestiniert für eine eigenständige Position war. Auch nach seinem Ausscheiden aus dem Reichspfennigmeisteramt im Jahre 1604 blieb er der praktischen Politik insofern verbunden, als er vom Kaiserhof immer wieder mit Sonderaufgaben betraut wurde, die einmal seinen vertrauten Amtsbereich der Finanzverwaltung betrafen, zum andern aber auch in steigendem Maße die politisch diffizilen Fragen der Beziehungen der konfessionellen Parteien zueinander. Geizkofler wurde mehrfach als kaiserlicher Gesandter zu protestantischen Unionstagen geschickt, so etwa zum Rothenburger Unionstag des Jahres 1613. So wundert es eigentlich nicht, wenn Geizkofler neben dieser praktischen politischen Arbeit auch noch ein vielgefragter Ratgeber in politischen Grundsatzfragen war, vor allem nach seinem Ausscheiden aus dem Amt des Reichspfennigmeisters. Schon in diesen Gutachten hatte Geizkofler mehrfach darauf hingewiesen, daß die leidvolle Erfahrung anderer europäischer Länder für Deutschland ein warnendes Beispiel sein müsse. Sein Gutachten über die politischen und finanziellen Voraussetzungen des Türkenkrieges von 1604 ist vielleicht der deutlichste Beleg für sein Toleranzdenken. Anders als bei Schwendi speist sich diese Toleranz nicht nur aus dem Kalkül der Notlösung, sondern aus der Einsicht darin, daß das Gewissen des Menschen nicht durch Zwang beeinflußt werden kann: "Er befinde "in allen historien, je man mit gewalt ein religion außrotten wollen, je mehr sie sich gemehret und seind entweder translationes oder eversiones und ruinae dominorum daraus erfolgt." Geizkofler vergaß hier auch nicht auf das polnische Beispiel der religiösen Toleranz zu verweisen, das ihm auch aus persönlicher Anschauung durchaus vertraut war.
Geizkofler hatte im Sommer des Jahres 1587 als Gesandter des Erzherzogs Ferdinand von Tirol in Polen fungiert und dabei versucht, die Kandidatur des Erzherzogs Maximilian um die polnische Königskrone zu unterstützen. Seine Berichte über die komplizierte innenpolitische Lage in Polen nach dem Tode Stephan Bathorys lassen gar keinen Zweifel daran, daß ihm die konfessionspolitische Lage des Landes bestens bekannt war. Hier wird auch sichtbar, daß Geizkofler schon eine kritische Position den Jesuiten gegenüber einnahm, die in Polen eine eigene Politik betrieben, um die Gegenreformation dieses Landes zu fördern.
Geizkofler ist nicht nur als Verfasser von politischen und finanzpolitischen Gutachten für den Kaiserhof hervorgetreten. Gerade in der kritischen Phase der Reichspolitik um den Reichstag von 1613 herum ist er als Berater für Kaiser Matthias und seinen Direktor des Geheimen Rates Khlesl tätig. Dabei wurde deutlich, daß für Geizkofler der konfessionelle Dissens keinesfalls die Möglichkeit politischer Kooperation und gegenseitigen Vertrauens ausschloß. Mit Fürst Christian von Anhalt, einem der Führer des protestantischen Lagers, komme er gerne zusammen, so schrieb er an Khlesl, "dann so weit wir in religione discrepiren, also nahe sind unsere herzen und intentiones conjungiret, ob dahin mittel gefunden werden möchten, das mißtrauen aufzuheben." Diese praktische und politisch zu nutzende Toleranz beruhte bei ihm auf einer klar formulierten Anweisung zu einer neuen politischen Klugheit, die geradezu aufgeklärt anmutet. Drei gradus seien hierbei zu unterscheiden. Man müsse sich bei allem Tun historisch belehren lassen, aus eigenem Schaden lernen (wobei er natürlich an den durch die Reformation verursachten Zustand des Reiches dachte) und schließlich habe man ex dictamine rationis sapere, nach der Richtschnur des Verstands also zu denken und zu handeln. Hier wurde ein Verständnis des konfessionellen Konflikts erreicht, das sowohl die persönliche Gewissensfrage wie auch die politischen Gesichtspunkte berücksichtigte. Duldung anderer Bekenntnisse wird hier nicht mehr nur als alleinige Voraussetzung eines neuen Friedens im Reich, der für Geizkofler nur mehr auf der Grundlage einer vollen Paritätisierung des Reiches erreichbar schien. Seine brieflichen Vorschläge zur Überwindung der nach dem Reichstag von 1613 entstandenen Lage, die er Khlesl unterbreitete, lassen an einer solchen Bewertung keinen Zweifel.
Die Situation im Reich nach 1555 war dadurch gekennzeichnet, daß die Deutung dieses Friedensschlusses in höchstem Maße kontrovers geführt wurde: Der päpstliche Nuntius Minuto Minucci hatte 1588 den Zustand so charakterisiert, daß er seit etwa 15 Jahren bei den Protestanten die Neigung beobachtete, unter dem Namen der Freistellung die Zulassung zu allen geistlichen Ämtern, Würden und Beneficien in gleicher Weise wie die Katholiken zu verlangen. All dies verrate den "seltsamen und unbilichen Anspruch", daß es im Reich zwei zugelassene und auch gleichberechtigte Konfessionen gebe. Für die katholische Seite war die Sache ebenso klar und eindeutig: Nach der erneuten Verurteilung der Protestanten im Konzil von Trient als "sectische verführer und Ketzer" bestand eigentlich kein Grund, in den Protestanten eine gleichberechtigte Konfession zu sehen, zumal alle politischen Lehren geboten, in einem politischen Gemeinwesen nur ein Bekenntnis zuzulassen. Wenn man diese Regel akzeptierte, dann mußte sich die Waagschale zugunsten der Seite neigen, die über das größere Alter und das Gewicht der römischen Kirche verfügte. Bei solcher Grundkonzeption ist eigentlich nur noch zu fragen, wie man von dieser Grundlage aus mit dem Frieden von 1555 leben konnte. Hier ist es interessant zu sehen, wie der Verfasser der schon erwähnten Autonomia mit diesem Frieden zurechtkommt. Er greift zum Vergleich mit dem Seemann, der im Sturm und bei Gefährdung des ganzen Schiffes die Segel streicht und "laviert" und "temporisiert", um das Schlimmste zu verhüten. Daraus ergibt sich zugleich die an Thomas von Aquin angelehnte Grundregel für die Auslegung des Religionsfriedens: strikte und enge Auslegung, strenge Rechtsanwendung gegen alle Abweichungen; es gilt - so hat man es formuliert - das Prinzip der "Mindestbegünstigung", man räumt dem Gegner nur den kleinstmöglichen Spielraum ein.
Doch dies alles spielt sich vor dem Großen Krieg ab. Er war selbst die große Verneinung der Toleranz, wenn wir auch keinesfalls übersehen dürfen, daß dieser Krieg gewiß nicht allein aus Gründen der konfessionellen Gegensätze ausgetragen wurde. Er war ein Stück aus der Herausbildung des europäischen Staatensystems, ein Krieg zur Durchsetzung machtpolitischer Positionen und Einflußsphären nach innen wie nach außen. All dies wurde freilich überlagert durch die Töne religiöser Polemik und Unerbittlichkeit, die sich noch bis in die Phase der Friedensverhandlungen fortsetzten. 1646 erschien unter dem Pseudonym Ernestus de Eusebiis eine Schrift mit dem Titel Judicium theologicum zur Frage der theologischen Möglichkeit eines Friedens zwischen Katholiken und Protestanten, die den Spielraum für einen Frieden extrem verkleinerte und einer vertraglichen Regelung jede dauerhafte Geltung absprach. Stattdessen empfahl der Verfasser den katholischen Fürsten, doch weiterzukämpfen und auf eine noch mögliche Wende des Krieges zu hoffen. Immerhin fand dieser Extremismus nicht die Unterstützung Maximilians von Bayern, der den Dillinger Autor sogar bestrafen ließ.
Von daher stellt sich noch einmal die Frage, ob der Frieden, der 1648 in dieser Stadt verkündet wurde, überhaupt für eine Geschichte der Toleranz in Anspruch genommen werden darf.
Meine Antwort lautet: Ja, wenn auch eine naive Koppelung von erreichtem Frieden und gewährter Toleranz fehlgehen würde. Wer sich die langwierigen Verhandlungen um die religionspolitischen Fragen zwischen 1645 und 1648 anschaut, wird schnell feststellen können, daß hier zunächst noch einmal die Kämpfe der Jahre zwischen 1555 und 1618 in einem zweiten Durchgang gekämpft wurden: Es ging erneut darum, ob den Protestanten eine nur begrenzt geduldete Rolle im Reich zugewiesen wurde, oder ob sie selbst jene aequalitas exacta mutuaque in Anspruch nehmen durften, die sie zum Ziel ihrer Politik machten. Es ging wieder um die Rolle der Calvinisten im Reich, es ging um die Majorisierung auf den Reichstagen, es ging letztlich wieder um die autonomia des Einzelnen, nicht um die autonomia eines Fürsten etwa im Verständnis eines Johann Gerhardt, um auch diese Begriffsvariante zu erwähnen.
Damít können wir wieder an den Begriff anknüpfen, der uns schon den Problemhorizont des späten 16. Jahrhunderts öffnete, als die "Freistellung" des individuellen Bekenntnisses als Bedrohung der politischen Ordnung verstanden wurde. Als es in der zweiten Märzhälfte 1648 wieder um die autonomia ging, war das die letzte Gruppe von Problemen, die einvernehmlich gelöst werden mußte. Natürlich hatte Schweden sich für einen möglichst weiten Begriff von autonomia eingesetzt, aber die Protestanten mußten sich mit einer Differenzierung des Konzepts zufriedengeben. Man unterschied drei Gruppen von Untertanen: Jene, die schon 1624 das Recht zur privaten und öffentlichen Religionsausübung besaßen, jene, die sich zum Zeitpunkt des Friedensschlusses zum evangelischen Glauben bekennen würden und schließlich jene, die in Zukunft zum protestantischen Bekenntnis übertreten sollten. Der kaiserliche Gesandte Trautmannsdorff hatte schon im Sommer des Vorjahres einer Lösung zugestimmt, die für diese drei Gruppen sehr genau abgestimmte Autonomierechte vorsah. Die erste Gruppe verfügte über das volle Recht der öffentlichen und privaten Religionsausübung exercitium publicum et privatum, die zweite Gruppe sollte den Schutz vor Ausweisung und das Recht der devotio domestica genießen, aber auch jenseits der Territorialgrenzen Gottesdienste besuchen können. Die letzte Gruppe sollte immerhin 3-5 Jahre vor Ausweisung geschützt sein, eine nur auf den ersten Blick neue Methode, um einen konfessionellen Dissens zu deeskalieren, denn schon in den Religionsprozessen der Untertanen am Reichskammergericht im späten 16. Jahrhundert waren erstaunlich lange Bleibefristen vor einer eventuellen Ausweisung eingeräumt worden.
Damit zeigt sich, daß die Debatte um das ius emigrandi auf dem Friedenskongreß ganz im Sinne der Intentionen der protestantischen Partei schon im späten 16. Jahrhundert jetzt wieder als Hebel zur Durchsetzung eines Rechtsanspruchs privater Religionsausübung genutzt wurde. Wie die Analyse der letzten Verhandlungsphasen um dieses Problem gezeigt hat, war hier die kaiserliche Delegation erstaunlich kompromißbereit, so daß es den Protestanten unter Leitung Schwedens gelang, hier eine starke Sicherung protestantische Minoritäten in katholischen Territorien durchzusetzen. Strittig blieb bis zuletzt die Frage der Ausweisungsfristen, die schließlich auf drei bzw. fünf Jahre festgesetzt wurden, wobei jedoch der Besitzstand auch nach einer Emigration gesichert blieb.
Wurde also im Reich damit das ius reformandi der Landesfürsten de facto, nicht de jure erheblich begrenzt, so mußte dies damit erkauft werden, daß die österreichischen Protestanten - von adeligen Sonderrechten abgesehen - geopfert wurden, während auf der anderen Seite für die Augsburger Protestanten die Parität gerettet werden konnte. So entstand ein kompliziertes System von Religionsprivilegierungen, dessen Begründung letztlich darin gesehen werden muß, daß die individuelle Entscheidung für ein Bekenntnis der wesentliche Grund für dessen politische Absicherung wurde. Gerade die rechtlich hochdifferenzierte Berechtigung der verschiedenen Kategorien von Untertanen mußte über kurz oder lang zu einem Zusammenbruch dieses Systems führen. Die Sprache dieser Bestimmungen aber war eindeutig und entschlossen: patienter tolerentur et conscientia libera domi devotioni suae, sine inquisitione aut turbatione.
Wurde im Bereich der privaten Religionsausübung mancher Kompromiß geschlossen, der letztlich von der Einigkeit zwischen der Krone Schwedens und den deutschen Protestanten, der Geschlossenheit des katholischen Widerstands oder den Differenzen zwischen Anhängern der Confessio Augustana und den Reformierten abhing, so vollzog sich die Lösung des großen Problems der Rolle der Konfessionen in der Reichsverfassung sehr viel grundsätzlicher und auch theoretisch klarer. Die schließlich gefundene Lösung der vollständigen Paritätisierung der Reichsverfassung durch die Bildung der Corpora Catholicorum und Evangelicorum und die Möglichkeit der itio in partes in Konfessions- und all jenen Fragen, in denen die beiden Parteien nicht übereinstimmten (Art. V ? 52 IPO), ist eine glänzende, verfassungsrechtlich innovative Lösung, die freilich ganz auf der Linie liegt, die sich auf den Reichsversammlungen seit den 90er Jahren des 16. Jahrhunderts herausgebildet hatte. Die Reichstage zwischen 1582 und 1608 bieten manche Anregung für die neue Lösung von 1648. Sie setzt die Linie der Verrechtlichung des konfessionellen Konflikts fort, die 1555 begonnen worden war. In der itio in partes wird man die Legitimierung der Pluralisierung wiederfinden dürfen, der Dissens stand nun nicht mehr unter dem Verdikt von Ketzerei und Rebellion, sondern er hatte seinen verfassungsrechtlichen Ort gefunden.
Die Ablehnung der Majoritätsregel durch die Protestanten in einer Reihe von zentralen politischen Fragen konnte nur auf eine solche Lösung hinauslaufen, die die kleine concordia in der amicabilis compositio suchte, einer "Ersatz- und Notfigur für ein ... letztlich unerreichbares Ziel", wie Martin Heckel es formuliert hat. Die herrliche aequalitas exacta mutuaque, die in IPO ART. V, ? 1 als eine Art Generalregel etabliert wurde, ließ keine andere Lösung als diese zu, zumal sie auch mit dem allgemeinen Gleichheitsgrundsatz der Stände, der gemeinen Billigkeit, quasi naturrechtlich untermauert wurde.
Damit waren die bedeutenden konfessionellen Streitfragen einer einvernehmlichen rechtlichen Regelung zugeführt worden, zunächst also in einem hochdifferenzierten System der Abgrenzung einerseits und der Minimalsicherung andererseits. Dies alles vollzog sich in einem System quasisouveräner Territorialstaaten, die zunehmend die Möglichkeiten eigener Regelungen nutzten. Sie bemühten sich um neue Untertanen, um wüstgefallenes Land neu zu besiedeln, um handwerklich geschickte Neubürger zu gewinnen, um ihre Residenzstädte und andere Städte voranzubringen, die sich mehr und mehr als Experimentierfelder der Toleranz zu bewähren hatten. Staatlicher Nutzen und Machtstreben ließen zunehmend das klassische Argument der konfessionellen Einheitlichkeit zurücktreten. Christian Friedrich Daniel Schubart karikierte 1787 rückblickend in seiner Zeitschrift "Deutsche Chronik" diese Neigung der Staaten mit dem schönen Vers:
"Du Tochter Gottes, Toleranz, Weißt Du, wer dich im Sonnenglanz in Deutschlands Städte führte?" - Der Fürsten Herz regierte oft Wahrheitsliebe! Doch meistentheils - Finanz." |
Damit hatte sich schon bald 1648 eine neue Dynamik des Nebeneinanders der Konfessionen ergeben, die sehr bald auch im Geist der Frühaufklärung ihre theoretische Legitimation fand. Die Zeitschriften veröffentlichten jetzt regelmäßige Berichte über den Stand des konfessionellen Miteinanders, tolerante Fürsten wurden gelobt, toleranzfeindliche scharf getadelt. Gleichzeitig sanken die Konfessionen zu Religionsgesellschaften im Sinne Pufendorfs hinab, ordneten sich dem großen Zweck des Territorialstaates unter. Der "lange Weg zur Toleranz" erreichte damit eine neue Zwischenstation, um dann in den Grundrechtserklärungen des Revolutionszeitalters und im Allgemeinen Landrecht seinen vorläufigen Endpunkt zu finden. Damit war freilich auch der Zeitpunkt gekommen, an dem kritische Beobachter feststellten, daß sich nach der Überwindung der religiösen Intoleranz ein neues Feld auftat, die politische Intoleranz. "An die Stelle der vor dem Geist der Zeit mehr und mehr entweichenden religiösen Intoleranz" sei "in unseren Tagen die politische getreten", schrieb 1846 Karl von Rotteck. Er führte diese Entwicklung auf die Radikalisierung der Parteiungen in der Französischen Revolution zurück, deren Nachwirkungen die moderne Welt tief geprägt haben.
Gegenüber all dem bleibt der Westfälische Friede freilich eine wichtige Wegmarke der Toleranz, die niemand besser charakterisieren könnte als ausgerechnet der französische Sozialist Pierre Proudhon, der den Westfälischen Frieden als "expression supérieure de la justice identifiée avec la force des choses" bezeichnete, die auf immer bestehe. Die Verbindung von Idee und gesellschaftlicher Realität scheint darüber hinaus ein Analyseverfahren zu sein, das uns dem Kern des historischen Prozesses näherbringt als andere Zugänge.
Gegen eine solche Wertung werden wir, auch wenn sie von einem utopischen Sozialisten stammt, im Vorfeld der 350-Jahrfeier nichts einzuwenden haben.