WERNER BRAUN Krieg und Frieden im Geistlichen Lied |
I. Spektrum des Liedes
Solch grobe Festlegungen mittels Idealtypen müssen auf Misch- und Sonderformen achten, denn das deutsche Lied stand wie kein anderes sonst für einen großen Teil der Vokalmusik schlechthin ein: Strophenliedtexte konnten zu Liedmotetten und hier zu prägnanten Satz- und Klangtypen wie Liedtricinien ausgestaltet werden. Dabei wäre wieder zwischen musikalisch-strophischer Repetition und Durchkomposition zu unterscheiden. Natürlich gab es auch das geistliche Liedkonzert und - um ein gänzlich andersartiges Modell zu nennen - das propagandistische oder das bloß Nachrichten übermittelnde Marktlied, das seinen "Thon" auslieh und dessen Botschaft - wie hätte es damals anders sein können - ebenfalls ins Geistliche reichte. [2]
In dem Gewirr der Formen und Erscheinungen bildet der genannte Haupttyp eine Art Achse. Seine eingeschränkte Modernität zeigt sich musikalisch im "Kantionalsatz", dem meist vierstimmigen "Contrapunctus simplex" mit Oberstimmenmelodie [3], ohne Textwiederholungen und fast ohne Wortausdeutungen, denn die Folgestrophen hatten ja dieselbe Musik wie die vertonte erste Strophe. Diese Klangform, die auch Nichtmusikern mitzusingen erlaubt, war bei Ausbruch des Krieges etwa ein halbes Jahrhundert alt. Sie paßt zu einer Dichtungsart, in der die Spuren von Opitz' Reform noch kaum wahrzunehmen sind. Das Neue darin beschränkt sich auf die materialen Merkmale: "ad hoc hergestellt" und damit "auf die Zeitereignisse latent oder offen bezogen". Vielleicht kommt im Wort "Seufzer", das zwischen 1620 und 1640 besonders gern für das geistliche "Lied" verwendet wird, ein inhaltliches Moment ins Spiel; die von Angst und Trost geprägte Inbrunst [4] scheint darin enthalten. Und offenbar sind solche Texte nun häufiger originalvertont als die Dichtungen zuvor. Zwar wird auch der alte deutschsprachige "Choral" - das Lied der Reformationszeit - immer wieder "gesetzt", aber nur das neue Lied hat gleich von Anfang an "seinen" Tonsatz. Die mitgelieferten Alt-, Tenor- und Baßpartien machen es kompakt-mehrstimmig. In den altlutherischen Ruf zur Buße ("Aus tiefer Not schrei ich zu dir", 1523) stimmt es nachdrücklich ein, denn Kriege galten als Strafgericht für die Sünde. [5] Und da unter dem Eindruck der Katastrophe die "haltung gewisser Bußpredigten [...] bey jetzigen hochgefehrlichen zeiten" (1626) angeordnet war [6] und dabei auf das alte Liedgut zurückgegriffen wurde, verliert der Unterschied zwischen einem kirchlichen und einem geistlichen Lied weiter an Gewicht.
Das für unseren Zeitraum maßgebliche Leipziger "Cantional" des Johann Hermann Schein (1627) geht über die 1619 für die Betstunden genannten fünf plus vier Gesänge (zu Beginn und Ende der Veranstaltung) hinaus und bezieht 15 weitere Psalmdichtungen - sämtlich von Cornelius Becker (1602) und auf von Schein neu ausgesetzte "Thöne" zu singen - mit ein. Außerdem verweist der Komponist summarisch auf die Liedgruppen "Creutz / Verfolgung / etc.", "Beicht vnd Buß" und andere Psalmlieder. [7] Für all diese Gesänge war ein Schulchor [8] nötig, der dann auch außerhalb der Kirche liedersingend in Erscheinung trat, auf Gassen und Plätzen, vor und in den Bürgerhäusern, auf dem Gottesacker. Insofern hat das geistliche Lied im Dreißigjährigen Krieg noch einen durchaus repräsentativen Charakter. Überhaupt muß der starke Traditionsbezug dieser Kunstform stets im Auge behalten werden. Ohne das Bewußtsein von 'der' Litanei, 'dem' "Da pacem Domine" und 'dem' "Te Deum laudamus" rief damals kein Dichter-Musiker zur Buße und Gotteslob auf. Beispielhaft verdeutlicht das der mitteldeutsche Dorfschulmeister und "Musicus" Johann Thüring 1621, der 15 teils strophische, teils prosaische Bittgesänge zu vier bis acht Stimmen durch Litanei und "Te Deum laudamus" umrahmt. Daß auch die Witterung thematisiert wird (Titelwortlaut, Texte von Nr. 14 [9] und 16), entspricht ebenfalls einer der Litaneibitten (gegen "Hagel vnd Vngewitter" bzw. für die "Früchte auf dem Lande") und soll die Gefahr der Hungersnot bannen. Thüring wünscht sich (laut Widmungsvorrede) diese Stücke "Bey jetzigen bößen Leuften" in den Gotteshäusern seines thüringisch-sächsischen Wirkungskreises gesungen.
II. Negative Gelegenheiten und böse Zeiten
Die großen Festgesänge überschritten den Rahmen des Liedes. Aber auch echte Notgesänge konnten sich zu musikalisch anspruchsvollen Gebilden auswachsen. So beruft sich Erasmus Widmann in Rothenburg ob der Tauber in seinen "Piorum Suspiria. Andechtige Seufftzen vnnd Gebet / vmb den lieben Frieden / vnd abwendung aller Hauptplagen vnd Straffen" (1629) trotz strophischer Textstruktur auf Lodovico Viadanas "Art", d.h. auf das geringstimmige Vokal-Concerto [12], und in Eilenburg kam es sogar zu Generalbaß-Monodien über 'rhythmische Prosa' des Dichtermusikers Johann Hildebrand (1645). [13] Diese "Krieges-Angst-Seufftzer des fast verödeten Teutschlandes" geben der eigentlich modernsten (weil oratorisch-ausdrucks-stärksten) Kompositionsart den Beigeschmack des auch klanglich Verödeten. Erst ab drei Satzstimmen ließ sich ja "Harmonie" erwarten. Der Kantionalsatz mit seinen vollen Klängen verheißt insofern Hoffnung.
Man kann mit dieser Typologie noch weitergehen und nach der musiklosen, nur von Lärm und Geschrei erfüllten Wirklichkeit und nach dem usuellen, ungeregelten Singen (ohne Noten) die Tonsatz-Stufen "dünn", "voll" und "prächtig" unterscheiden. Auch von hier aus erscheint die Vierstimmigkeit axial: weder dürftig noch prächtig, offen nach beiden Seiten. Die jeweiligen Umstände entscheiden über ihren Rang. Wo es sonst keine Kirchenmusik gab, reichte er hoch.
Die Umstände aber waren nun nicht mehr allein die Sozialgeschichte. In Hinweisen wie dem genannten thüringischen von 1621 oder dem Breslauer von 1622 auf die "jetzo betrübten Zeiten vnd Leufften" kommt eine Art 'negatives Detempore' zum Ausdruck, in dem nicht das Kirchenjahr, sondern das Kriegsjahr den 'Ton' angibt. Sie finden sich von nun an fast stereotyp in allen politisch aktuellen Musikdrucken aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges. [14]
III. Erste Friedensbitten
Dessen siebenstrophige Friedensbitte mit dem Textbeginn "Wacht auf jhr wehrden Deutschen" [16], eine "Auffmunterung zur Busz vnd andacht", gehört zum Typ des lutherisch zeitkritischen Liedes, den des Reformators musikalischer Mitarbeiter Johann Walter anspruchsvoll festgelegt hatte: "Ein newes Christlichs Lied / Dadurch Deudschland zur Busse vermanet" ("Wach auf, wach auf, du deutsches Land", 1561). [17] Die Aussagen sind ähnlich: Statt dankbar nach dem neuen reinen Evangelium zu leben, ergibt man sich der Sünde - Besler nennt acht Verfehlungen, Walter zwölf und dazu Modetorheiten -, die Gottes Strafen auslöst. Warnte Walter (ebenfalls vierstimmig) wie in letzter Minute, so hat Besler "hunger, Krieg vnd todt" wahrhaftig vor Augen (Str. 1). Wohl in beiden Fällen sind Dichter und Komponist jeweils identisch. Besler nennt als Alternativmelodie "Hertzlich thut mich verlangen / nach einem seeligen End", also die Oberstimme von Hans Leo Haßlers "Mein Gmüt ist mir verwirret" (1601), die erst sechs Jahre zuvor mit dem geistlichen Text verbunden worden war (in Görlitz). Besler entscheidet sich damit für eine der bekanntesten Strophenformen der deutschen Dichtung, die als Hildebrands-, Bruder Veit- oder Benzenauer-Ton gesungen wurde. [18] Wie damals üblich, bringt Besler sie in vier Langzeilen statt in acht Kurzzeilen. Die Verskadenzen bestehen dabei jeweils in Länge und Pause (= männliche Schlüsse). Besler markiert die drei Kadenzpunkte des gb-Modus (gleichsam g-Moll) d, b und g. Daß er hoch schlüsselt (mit dem Altus als Fundamentstimme), unterstreicht den Titelhinweis "vnd vmb der Studierenden Jugend willen vierstimmig vbergesetzet": Es fehlte an Baßsängern.
Anders als Walters den Oktavrahmen gleichmäßig füllende Tenor-Melodie bleibt Beslers Cantus-primus-Melodie auffällig lang dem Quintton d'' verhaftet (besonders zu Beginn des Abgesangs): Folge einer 'italienisch' auf Textverständnis zielenden Akkorddeklamation. Um so wuchtiger tritt der letzte halbe Schlußvers "vnd auch bekehren recht" melismatisch in Erscheinung: Auf die Bekehrung kommt es dem Autor an.
IV. Dilligers Textverdeutlichung
Dilliger gewann aus einigen seiner für die "Gelegenheit" hergestellten Einzeldrucken (von je einem Bogen = vier Seiten) die Sammelwerke "Musica oratoria" und "Musica poenitaria", indem er - vermutlich - die Buchstaben-Blattsignaturen nachträglich auf das jeweilige Einzeltitelblatt stempeln und das Ganze unter neuer Titelei zusammenbinden ließ. In der erstgenannten Sammlung (mit dem deutschen Untertitel "Bet vnd Lob Musica", 1630) zeigen zwei thematisch analoge, gestalterisch gegensätzliche Beispiele sowohl die Verpflichtung auf das Lied als auch die Dehnbarkeit dieses Modells; es handelt sich um die Werkteile F und P [23], beides Geburtstagsgaben für angesehene Coburger Bürger, beide mit Angabe der Poeten (wodurch Dilligers worttextliche Verantwortung hier entfällt), beide mit Hinweis auf des Komponisten "langwierige Leibes Schwachheit" bzw. sein "Quartan Fieber".
Druck P "Grewel der verwüstung jetziger Welt" (1629) [24] für Amtsschösser Nicolaus Schwartzlose [25] vertritt den klassischen Typus eines thüringischen Kantionalsatzliedes. Der Text "Ach wie elend ist die Zeit" des in Krempe (Schleswig-Holstein) lehrenden und predigenden Wilhelm Alardus (1605-1636) [26] schildert den Verfall der Sitten: Weltliebe (Str. 2), Vertreibung der wahren Lehrer (Str. 7), Egoismus, Gewinnsucht, Falschheit, Auflösung von Freundschafts- und Familienbanden (Str. 11 und 13). "Keysr vnd König" erliegen der "Hur von Babylon" (Str. 8). Das "Kriegsgeschrey" erscheint als Folge davon. Und "Mit dem Friedn es gar gfährlich steht" (Str. 12). Der Poet hat in dieser Anleitung zum rechten Sterben Mühe, die Silbenfülle seiner Anklagen in die schlichte Form des jambischen Sechszeilers (8 8 7 8 8 7) zu bringen; Vokalelisionen müssen helfen.
Dilligers Tonsatz, hochgeschlüsselter Aeolius (etwa a-Moll), unterstreicht die Einfachheit durch ein metrisches Changieren zwischen (quasi) Dreihalbe- und Sechsvierteltakt. [27] Die Melodiezeile erhält dabei eine Geschlossenheit, die der Einzelwortausdeutung zusätzlich widerstrebt. Plastisch formt sich eine zweiteilige Symmetrie um den dritten Vers, den Siebensilbler. Hier 'moduliert' die Tonart nach (quasi) C-Dur. Der analog gebaute sechste Vers schließt augmentiert (mit vergrößerten Notenwerten) in der Grundtonart. Die Musik 'schwingt' und eignet sich so trotz des düsteren Textes "zum frölichen Glück= vnd Frewden=Wunsch".
Anders der vorangegangene Druck F "Horribile spectaculum horum temporum" (1630) für Hofadvokat Dr. jur. Philipp Döbner, der nach seiner friedlich verbrachten Studienzeit im Kanton Basel (1620/21) [28] die deutsche Kriegskatastrophe besonders stark empfunden haben muß und dessen Frau 1633 der Pest erliegen sollte (was Meyfart zu bewegenden Versen veranlaßte). [29] Als Textvorlage wählte Dilliger nun ein 15strophiges Alexandrinergedicht "Ach was schrecklich Gesicht" des zu Rinteln (Westfalen) lehrenden Josua Stegmann (1588-1632), der seine Opitz-Studien [30] hier nur halbherzig auswertete. Dilliger ordnet je vier Alexandriner zur achtzeiligen Strophe, teilt also den Vers (= Zeilenfermaten), so daß jeder ungeradzahlige Kurzvers als Waise erscheint und das Enjambement eine Art Durchkomposition der Strophe bewirkt. Da nicht die Viertel-, sondern die Halbenote die Deklamation trägt, scheint viel Musik vorhanden (35 'Takte' gegenüber 20 des "Grewel"-Liedes und 16 bei Besler). Die Wechselrhythmik schwindet zur bloßen Episode ("Was wolt jhr hier doch thun").
Stegmanns Schilderungen wurzeln in den prophetischen Büchern des Alten Testaments und den Endzeitvisionen der Offenbarung des Johannes, haben aber auch eine theatralische Qualität, die bei dem Stegmannschüler Johann Rist offen zutage treten wird, so im "Friedewünschenden Teutschland" (1647/1649). Stegmanns Plagen erscheinen in der Folge Krieg, Pest, Hunger; Rist schließt noch den Tod an, der als stumme 'Person' aber auch fortgelassen werden konnte. [31] Die Allegorien des älteren Poeten haben nichts Spielerisches. Von den beiden Gegenkräften, der freundlichen und der "sauren" Schwester (bei Rist heißen sie "Liebe" / "Hoffnung" und "Gerechtigkeit"), vertraut Stegmann der ersteren und damit der "Gnad". Seine schlichte Schlußbitte (Str. 15) ist ein echter Herzensseufzer (im Sinn von Stegmanns Selbsteinschätzung).
Obwohl das "Horribile spectaculum" somit einen Ausweg aus dem Verhängnis andeutet, greift der Vertoner zu einem im Kantionalsatzlied ungewöhnlichen Mittel: "Mit Vier Stimmen in einen etwas trawrigen modum, nach anlaß des Texts, gebracht". "Modus" bedeutet hier nicht bloß "Tonart" (= Phrygius, etwa e-Moll), sondern auch Klang- und Stimmenverlauf im einzelnen, und "etwas Trauriges" äußert sich außer im getragen-langsamen Gang vor allem in den Melismen zu Vers 2, wo die phrygische Kadenz statt ordnungsgemäß von der vorgehaltenen großen Sept F-e zur großen Sext F-d in die übermäßige Sext F-dis führt und der dazu passende Fundamentton Fis verspätet kommt: wahrhaftig ein satztechnisches "Ungeheur" (Str. 1). Die zweite bemerkenswerte Unregelmäßigkeit ereignet sich zu Vers 7 mit dem Sopran-gis' zum Baß-c. Die übermäßige Duodezim bildet die Plagen, Satans Dienerinnen, ab: Madrigalisches im Lied.
V. Relation, Relation!
Von den etwa 40 Liedern auf die Schlacht bei Breitenfeld nahe Leipzig am 7./17. September 1631 [35] bediente sich eines ausdrücklich der Komposition von Schein, ein sonst unbekannter Theologiestudent war der Verfasser. [36] Der Ruf "Relation, Relation", ursprünglich nur für die erste Strophe bestimmt, leitet jede der 20 Strophen dieses "Triumphus Sueco-Saxonicus" ein. Zum geistlichen Lied wird er in seinen drei letzten Strophen, wo von Beten und Bitten die Rede ist und sogar Luthers "Feste Burg" anklingt (Str. 19).
Blieb hier die dichterische Nachahmung von Scheins 'Liebeskampf' auf die vorausgesetzte Musik (den "Thon"), die Strophenform und den Ruf beschränkt, so nähert sich der dichtende Pfarrer in Buttstädt bei Weimar Johann Röder in seinem "Dancklied für den erlangten edlen Frieden" (1648) [37] entschlossener dem poetischen Modell: Die Strophenzahl ist beibehalten (= sechs), der Ruf erklingt nur am Anfang, und es finden sich wörtliche Bezüge, am deutlichsten in Strophe 2, wo der ganze erste Vers übernommen wurde ("Diß ist gegangen also zu"). Außer Strophe 1 hat auch Strophe 4 viel Ähnlichkeit mit dem alten Gedicht. Aus dem Liebesgott Cupido ist Kriegsgott Mars geworden, aus dem Bräutchen Filli jedoch der Acker, den der Landmann nun endlich wieder für die Frucht vorbereiten kann - dank göttlicher Hilfe.
Um die neue Dichtung auch dem einfachen Gläubigen singbar zu machen, verzichtet Röder nun allerdings auf Scheins Musik und verlangt als Thon die für vorliegende Strophenform fast obligatorische Melodie des alten Täuferlieds "Kommt her zu mir, spricht Gottes Sohn" [38], die ihrerseits (als "Lindenschmied-Thon") [39] "publizistisch" anmutet und die vielleicht auch Schein bei seinem Waldliedlein vorgeschwebt hat. [40]
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