WERNER BRAUN
Krieg und Frieden im Geistlichen Lied

I. Spektrum des Liedes

Seit Martin Luther war das "Geistliche Lied" Programm und Begriff. Es besteht wie das weltliche Lied als einprägsam-schlicht gesungene Strophendichtung, das Attribut betont den inhaltlichen Gegensatz zu Freud und Leid der geschlechtlichen Liebe. Luther dachte vor allem an den neuen Gottesdienst, später verlangte mehr und mehr die Privatandacht ihr Recht. Und da ab etwa 1630 Martin Opitz auf das deutsche Lied einzuwirken begann, ist diese Kultur im Barockzeitalter von einer schwer zu durchschauenden Vielfalt geprägt. Nach den gängigen Bestimmungsmerkmalen "Stil", "Besetzung", "Funktion" und "Sozialbereich" wäre das deutsche geistliche Lied im Dreißigjährigen Krieg als mäßig modern, kompakt mehrstimmig, lehrhaft und schulchörig von dem der zweiten Jahrhunderthälfte zu unterscheiden, das als modern, solistisch, affektstark und privat aufgefaßt wird. [1]

Solch grobe Festlegungen mittels Idealtypen müssen auf Misch- und Sonderformen achten, denn das deutsche Lied stand wie kein anderes sonst für einen großen Teil der Vokalmusik schlechthin ein: Strophenliedtexte konnten zu Liedmotetten und hier zu prägnanten Satz- und Klangtypen wie Liedtricinien ausgestaltet werden. Dabei wäre wieder zwischen musikalisch-strophischer Repetition und Durchkomposition zu unterscheiden. Natürlich gab es auch das geistliche Liedkonzert und - um ein gänzlich andersartiges Modell zu nennen - das propagandistische oder das bloß Nachrichten übermittelnde Marktlied, das seinen "Thon" auslieh und dessen Botschaft - wie hätte es damals anders sein können - ebenfalls ins Geistliche reichte. [2]

In dem Gewirr der Formen und Erscheinungen bildet der genannte Haupttyp eine Art Achse. Seine eingeschränkte Modernität zeigt sich musikalisch im "Kantionalsatz", dem meist vierstimmigen "Contrapunctus simplex" mit Oberstimmenmelodie [3], ohne Textwiederholungen und fast ohne Wortausdeutungen, denn die Folgestrophen hatten ja dieselbe Musik wie die vertonte erste Strophe. Diese Klangform, die auch Nichtmusikern mitzusingen erlaubt, war bei Ausbruch des Krieges etwa ein halbes Jahrhundert alt. Sie paßt zu einer Dichtungsart, in der die Spuren von Opitz' Reform noch kaum wahrzunehmen sind. Das Neue darin beschränkt sich auf die materialen Merkmale: "ad hoc hergestellt" und damit "auf die Zeitereignisse latent oder offen bezogen". Vielleicht kommt im Wort "Seufzer", das zwischen 1620 und 1640 besonders gern für das geistliche "Lied" verwendet wird, ein inhaltliches Moment ins Spiel; die von Angst und Trost geprägte Inbrunst [4] scheint darin enthalten. Und offenbar sind solche Texte nun häufiger originalvertont als die Dichtungen zuvor. Zwar wird auch der alte deutschsprachige "Choral" - das Lied der Reformationszeit - immer wieder "gesetzt", aber nur das neue Lied hat gleich von Anfang an "seinen" Tonsatz. Die mitgelieferten Alt-, Tenor- und Baßpartien machen es kompakt-mehrstimmig. In den altlutherischen Ruf zur Buße ("Aus tiefer Not schrei ich zu dir", 1523) stimmt es nachdrücklich ein, denn Kriege galten als Strafgericht für die Sünde. [5] Und da unter dem Eindruck der Katastrophe die "haltung gewisser Bußpredigten [...] bey jetzigen hochgefehrlichen zeiten" (1626) angeordnet war [6] und dabei auf das alte Liedgut zurückgegriffen wurde, verliert der Unterschied zwischen einem kirchlichen und einem geistlichen Lied weiter an Gewicht.

Das für unseren Zeitraum maßgebliche Leipziger "Cantional" des Johann Hermann Schein (1627) geht über die 1619 für die Betstunden genannten fünf plus vier Gesänge (zu Beginn und Ende der Veranstaltung) hinaus und bezieht 15 weitere Psalmdichtungen - sämtlich von Cornelius Becker (1602) und auf von Schein neu ausgesetzte "Thöne" zu singen - mit ein. Außerdem verweist der Komponist summarisch auf die Liedgruppen "Creutz / Verfolgung / etc.", "Beicht vnd Buß" und andere Psalmlieder. [7] Für all diese Gesänge war ein Schulchor [8] nötig, der dann auch außerhalb der Kirche liedersingend in Erscheinung trat, auf Gassen und Plätzen, vor und in den Bürgerhäusern, auf dem Gottesacker. Insofern hat das geistliche Lied im Dreißigjährigen Krieg noch einen durchaus repräsentativen Charakter. Überhaupt muß der starke Traditionsbezug dieser Kunstform stets im Auge behalten werden. Ohne das Bewußtsein von 'der' Litanei, 'dem' "Da pacem Domine" und 'dem' "Te Deum laudamus" rief damals kein Dichter-Musiker zur Buße und Gotteslob auf. Beispielhaft verdeutlicht das der mitteldeutsche Dorfschulmeister und "Musicus" Johann Thüring 1621, der 15 teils strophische, teils prosaische Bittgesänge zu vier bis acht Stimmen durch Litanei und "Te Deum laudamus" umrahmt. Daß auch die Witterung thematisiert wird (Titelwortlaut, Texte von Nr. 14 [9] und 16), entspricht ebenfalls einer der Litaneibitten (gegen "Hagel vnd Vngewitter" bzw. für die "Früchte auf dem Lande") und soll die Gefahr der Hungersnot bannen. Thüring wünscht sich (laut Widmungsvorrede) diese Stücke "Bey jetzigen bößen Leuften" in den Gotteshäusern seines thüringisch-sächsischen Wirkungskreises gesungen.

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II. Negative Gelegenheiten und böse Zeiten

Wie das traditionelle Kirchenlied hatte das neuere geistliche Lied eine klar umrissene Aufgabe; es diente zu etwas und bezeichnete es. Während aber dort das Kirchenjahr und die Amtshandlungen des Geistlichen den Bestand lenkten, kamen hier auch die anderen Vorfälle des Lebens zur Sprache, die "Gelegenheiten". Schon Carl von Winterfeld (1845) nannte das anlaßgebundene musikalische Werk "Gelegenheitskomposition". [10] Sie gilt privaten und öffentlichen Anlässen und fand nur teilweise Einlaß in Werksammlungen und Gesangbücher (Cantionalien). Auch in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges wurden nach Möglichkeit weiterhin Familienfeste aufwendig begangen. Siegesfeiern und Friedensschlüsse boten Musikern und Poeten zusätzliche Aufträge und Einkommen. Daß dabei fast ausschließlich die lutherische Seite sich äußert, hat gute Gründe, so die Verpflichtung auf die jeweilige "Obrigkeit". Der katholische Kultus vermochte offensichtlich das besondere Ereignis stärker zu integrieren als der evangelische. [11] Und das künstlerische Ungleichgewicht wird noch verstärkt durch die Dominanz des mitteldeutschen Raums. Hier, zumal im Umkreis von Leipzig, kam es zu spektakulären Kriegsereignissen, hier befanden sich aber auch Musiker und Poeten, die zur geformten Mitteilung ihrer Eindrücke befähigt waren. Ihr parteilicher Jubel verdeckt das begleitende Elend. Und daß sogar ein momentaner Triumph Anlaß zur Klage sein konnte, lehrte der Tod König Gustav Adolfs auf dem Schlachtfeld bei Lützen am 6./16. November 1632.

Die großen Festgesänge überschritten den Rahmen des Liedes. Aber auch echte Notgesänge konnten sich zu musikalisch anspruchsvollen Gebilden auswachsen. So beruft sich Erasmus Widmann in Rothenburg ob der Tauber in seinen "Piorum Suspiria. Andechtige Seufftzen vnnd Gebet / vmb den lieben Frieden / vnd abwendung aller Hauptplagen vnd Straffen" (1629) trotz strophischer Textstruktur auf Lodovico Viadanas "Art", d.h. auf das geringstimmige Vokal-Concerto [12], und in Eilenburg kam es sogar zu Generalbaß-Monodien über 'rhythmische Prosa' des Dichtermusikers Johann Hildebrand (1645). [13] Diese "Krieges-Angst-Seufftzer des fast verödeten Teutschlandes" geben der eigentlich modernsten (weil oratorisch-ausdrucks-stärksten) Kompositionsart den Beigeschmack des auch klanglich Verödeten. Erst ab drei Satzstimmen ließ sich ja "Harmonie" erwarten. Der Kantionalsatz mit seinen vollen Klängen verheißt insofern Hoffnung.

Man kann mit dieser Typologie noch weitergehen und nach der musiklosen, nur von Lärm und Geschrei erfüllten Wirklichkeit und nach dem usuellen, ungeregelten Singen (ohne Noten) die Tonsatz-Stufen "dünn", "voll" und "prächtig" unterscheiden. Auch von hier aus erscheint die Vierstimmigkeit axial: weder dürftig noch prächtig, offen nach beiden Seiten. Die jeweiligen Umstände entscheiden über ihren Rang. Wo es sonst keine Kirchenmusik gab, reichte er hoch.

Die Umstände aber waren nun nicht mehr allein die Sozialgeschichte. In Hinweisen wie dem genannten thüringischen von 1621 oder dem Breslauer von 1622 auf die "jetzo betrübten Zeiten vnd Leufften" kommt eine Art 'negatives Detempore' zum Ausdruck, in dem nicht das Kirchenjahr, sondern das Kriegsjahr den 'Ton' angibt. Sie finden sich von nun an fast stereotyp in allen politisch aktuellen Musikdrucken aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges. [14]

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III. Erste Friedensbitten

Von Anfang des Krieges an begleiteten kunstvolle Gesänge die Ereignisse. In Breslau, nahe dem bedrohten Königreich Böhmen [15], erwies sich dabei Samuel Besler, evangelischer Schulmeister in der Neustadt, als konfessionell 'mehrsprachig'. Den (späteren) Kaiser Matthias hatte er 1611 anläßlich der Huldigung zum König von Böhmen lateinisch angeredet ("In te magna tuis spes est"), 1620 feierte er den calvinistischen Winterkönig Friedrich von der Pfalz mit zwei deutsch-französischen Psalmen (nach Ambrosius Lobwasser), ebenfalls achtstimmig. Sein jüngerer Bruder Simon, evangelischer Kantor an St. Margarethen, zeigte mit "Da pacem Domine" Gespür für die Konsequenzen (1619). Drei Jahre später fand auch Samuel Grund für einen "hertzlichen Seufftzer zu Gott", aber er schloß dem vierstimmigen Lied "Ach Herr, ich seuf allein" noch die kämpferisch-lutherische "Feste Burg" an. Er starb etwa 50jährig an der "Pestilentz", die Simon als zweite Folge von "Kriegesleuften" (nach dem Hunger) vorausgesagt hatte.

Dessen siebenstrophige Friedensbitte mit dem Textbeginn "Wacht auf jhr wehrden Deutschen" [16], eine "Auffmunterung zur Busz vnd andacht", gehört zum Typ des lutherisch zeitkritischen Liedes, den des Reformators musikalischer Mitarbeiter Johann Walter anspruchsvoll festgelegt hatte: "Ein newes Christlichs Lied / Dadurch Deudschland zur Busse vermanet" ("Wach auf, wach auf, du deutsches Land", 1561). [17] Die Aussagen sind ähnlich: Statt dankbar nach dem neuen reinen Evangelium zu leben, ergibt man sich der Sünde - Besler nennt acht Verfehlungen, Walter zwölf und dazu Modetorheiten -, die Gottes Strafen auslöst. Warnte Walter (ebenfalls vierstimmig) wie in letzter Minute, so hat Besler "hunger, Krieg vnd todt" wahrhaftig vor Augen (Str. 1). Wohl in beiden Fällen sind Dichter und Komponist jeweils identisch. Besler nennt als Alternativmelodie "Hertzlich thut mich verlangen / nach einem seeligen End", also die Oberstimme von Hans Leo Haßlers "Mein Gmüt ist mir verwirret" (1601), die erst sechs Jahre zuvor mit dem geistlichen Text verbunden worden war (in Görlitz). Besler entscheidet sich damit für eine der bekanntesten Strophenformen der deutschen Dichtung, die als Hildebrands-, Bruder Veit- oder Benzenauer-Ton gesungen wurde. [18] Wie damals üblich, bringt Besler sie in vier Langzeilen statt in acht Kurzzeilen. Die Verskadenzen bestehen dabei jeweils in Länge und Pause (= männliche Schlüsse). Besler markiert die drei Kadenzpunkte des gb-Modus (gleichsam g-Moll) d, b und g. Daß er hoch schlüsselt (mit dem Altus als Fundamentstimme), unterstreicht den Titelhinweis "vnd vmb der Studierenden Jugend willen vierstimmig vbergesetzet": Es fehlte an Baßsängern.

Anders als Walters den Oktavrahmen gleichmäßig füllende Tenor-Melodie bleibt Beslers Cantus-primus-Melodie auffällig lang dem Quintton d'' verhaftet (besonders zu Beginn des Abgesangs): Folge einer 'italienisch' auf Textverständnis zielenden Akkorddeklamation. Um so wuchtiger tritt der letzte halbe Schlußvers "vnd auch bekehren recht" melismatisch in Erscheinung: Auf die Bekehrung kommt es dem Autor an.

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IV. Dilligers Textverdeutlichung

Der thüringisch-fränkische Musiker-Theologe Johann Dilliger (1593-1647) eignet sich in mehrfacher Hinsicht zum Kronzeugen für unser Thema. Das geistliche Lied stand im Zentrum seines Schaffens. Als ein "homo musico-literatus" wußte er auch mit Worten allein die Nöte seiner Generation darzustellen [19], die ihm als späterem Seelsorger zusätzlich zu schaffen machten. Sensibel bis zur Hypochondrie, reagierte er auf die schlimmen Ereignisse in Coburg und Umgebung. Und seine Stimme hatte Gewicht, wie kein geringerer als sein Schulkollege Johann Matthäus Meyfart bekundet. [20] Daß Dilligers reiches musikalisches Werk noch kaum erschlossen ist - trotz zweier Dissertationen [21] und der Sicherheitsverfilmung in Kassel [22] -, hängt mit der rätselhaften Kompositionsfülle ausgerechnet in dieser Notzeit zusammen.

Dilliger gewann aus einigen seiner für die "Gelegenheit" hergestellten Einzeldrucken (von je einem Bogen = vier Seiten) die Sammelwerke "Musica oratoria" und "Musica poenitaria", indem er - vermutlich - die Buchstaben-Blattsignaturen nachträglich auf das jeweilige Einzeltitelblatt stempeln und das Ganze unter neuer Titelei zusammenbinden ließ. In der erstgenannten Sammlung (mit dem deutschen Untertitel "Bet vnd Lob Musica", 1630) zeigen zwei thematisch analoge, gestalterisch gegensätzliche Beispiele sowohl die Verpflichtung auf das Lied als auch die Dehnbarkeit dieses Modells; es handelt sich um die Werkteile F und P [23], beides Geburtstagsgaben für angesehene Coburger Bürger, beide mit Angabe der Poeten (wodurch Dilligers worttextliche Verantwortung hier entfällt), beide mit Hinweis auf des Komponisten "langwierige Leibes Schwachheit" bzw. sein "Quartan Fieber".

Druck P "Grewel der verwüstung jetziger Welt" (1629) [24] für Amtsschösser Nicolaus Schwartzlose [25] vertritt den klassischen Typus eines thüringischen Kantionalsatzliedes. Der Text "Ach wie elend ist die Zeit" des in Krempe (Schleswig-Holstein) lehrenden und predigenden Wilhelm Alardus (1605-1636) [26] schildert den Verfall der Sitten: Weltliebe (Str. 2), Vertreibung der wahren Lehrer (Str. 7), Egoismus, Gewinnsucht, Falschheit, Auflösung von Freundschafts- und Familienbanden (Str. 11 und 13). "Keysr vnd König" erliegen der "Hur von Babylon" (Str. 8). Das "Kriegsgeschrey" erscheint als Folge davon. Und "Mit dem Friedn es gar gfährlich steht" (Str. 12). Der Poet hat in dieser Anleitung zum rechten Sterben Mühe, die Silbenfülle seiner Anklagen in die schlichte Form des jambischen Sechszeilers (8 8 7 8 8 7) zu bringen; Vokalelisionen müssen helfen.

Dilligers Tonsatz, hochgeschlüsselter Aeolius (etwa a-Moll), unterstreicht die Einfachheit durch ein metrisches Changieren zwischen (quasi) Dreihalbe- und Sechsvierteltakt. [27] Die Melodiezeile erhält dabei eine Geschlossenheit, die der Einzelwortausdeutung zusätzlich widerstrebt. Plastisch formt sich eine zweiteilige Symmetrie um den dritten Vers, den Siebensilbler. Hier 'moduliert' die Tonart nach (quasi) C-Dur. Der analog gebaute sechste Vers schließt augmentiert (mit vergrößerten Notenwerten) in der Grundtonart. Die Musik 'schwingt' und eignet sich so trotz des düsteren Textes "zum frölichen Glück= vnd Frewden=Wunsch".

Anders der vorangegangene Druck F "Horribile spectaculum horum temporum" (1630) für Hofadvokat Dr. jur. Philipp Döbner, der nach seiner friedlich verbrachten Studienzeit im Kanton Basel (1620/21) [28] die deutsche Kriegskatastrophe besonders stark empfunden haben muß und dessen Frau 1633 der Pest erliegen sollte (was Meyfart zu bewegenden Versen veranlaßte). [29] Als Textvorlage wählte Dilliger nun ein 15strophiges Alexandrinergedicht "Ach was schrecklich Gesicht" des zu Rinteln (Westfalen) lehrenden Josua Stegmann (1588-1632), der seine Opitz-Studien [30] hier nur halbherzig auswertete. Dilliger ordnet je vier Alexandriner zur achtzeiligen Strophe, teilt also den Vers (= Zeilenfermaten), so daß jeder ungeradzahlige Kurzvers als Waise erscheint und das Enjambement eine Art Durchkomposition der Strophe bewirkt. Da nicht die Viertel-, sondern die Halbenote die Deklamation trägt, scheint viel Musik vorhanden (35 'Takte' gegenüber 20 des "Grewel"-Liedes und 16 bei Besler). Die Wechselrhythmik schwindet zur bloßen Episode ("Was wolt jhr hier doch thun").

Stegmanns Schilderungen wurzeln in den prophetischen Büchern des Alten Testaments und den Endzeitvisionen der Offenbarung des Johannes, haben aber auch eine theatralische Qualität, die bei dem Stegmannschüler Johann Rist offen zutage treten wird, so im "Friedewünschenden Teutschland" (1647/1649). Stegmanns Plagen erscheinen in der Folge Krieg, Pest, Hunger; Rist schließt noch den Tod an, der als stumme 'Person' aber auch fortgelassen werden konnte. [31] Die Allegorien des älteren Poeten haben nichts Spielerisches. Von den beiden Gegenkräften, der freundlichen und der "sauren" Schwester (bei Rist heißen sie "Liebe" / "Hoffnung" und "Gerechtigkeit"), vertraut Stegmann der ersteren und damit der "Gnad". Seine schlichte Schlußbitte (Str. 15) ist ein echter Herzensseufzer (im Sinn von Stegmanns Selbsteinschätzung).

Obwohl das "Horribile spectaculum" somit einen Ausweg aus dem Verhängnis andeutet, greift der Vertoner zu einem im Kantionalsatzlied ungewöhnlichen Mittel: "Mit Vier Stimmen in einen etwas trawrigen modum, nach anlaß des Texts, gebracht". "Modus" bedeutet hier nicht bloß "Tonart" (= Phrygius, etwa e-Moll), sondern auch Klang- und Stimmenverlauf im einzelnen, und "etwas Trauriges" äußert sich außer im getragen-langsamen Gang vor allem in den Melismen zu Vers 2, wo die phrygische Kadenz statt ordnungsgemäß von der vorgehaltenen großen Sept F-e zur großen Sext F-d in die übermäßige Sext F-dis führt und der dazu passende Fundamentton Fis verspätet kommt: wahrhaftig ein satztechnisches "Ungeheur" (Str. 1). Die zweite bemerkenswerte Unregelmäßigkeit ereignet sich zu Vers 7 mit dem Sopran-gis' zum Baß-c. Die übermäßige Duodezim bildet die Plagen, Satans Dienerinnen, ab: Madrigalisches im Lied.

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V. Relation, Relation!

Von den dreistimmigen konzertierenden Liedern "auff Italian-Villanellische Invention" der "Musica boscareccia" ("Waldliederlein") des Leipziger Thomaskantors Schein war das vierte im zweiten Teil der Sammlung (1626) eines der bekanntesten. [32] Es wanderte in leicht "verbesserter" Form in die weltliche Textsammlung "Zeit-Vertreiber" (ohne Jahr, Nr. 182), und es wurde kontrafiziert und parodiert. Der Erfolg erklärt sich aus der originellen Verbindung von Zeitungs- und Liebeslied. Der marktschreierische Beginn war eine äußerst wirksame "Aufforderung zum Zuhören". [33] Die Gedichtform selbst - sechszeilige Jamben wie in Dilligers Alardus-Vertonung - diente als "eine der beliebtesten Schweifreimstrophen" seit dem 15. Jahrhundert dem politischen Lied. [34] Auch König Gustav Adolfs Schlachtgesang von 1631 "Verzage nicht, o Häuflein klein" (von Johann Fabricius) mit der Melodie Michael Altenburgs wies diese Struktur auf. Schein bildet sogar musikalisch die Liedpublizistik nach: Die vier ersten Takte 'steht' der Klang im Großterz-Akkord über G, Sopran 1 als 'Melodie'-Träger deklamiert aufgeregt auf d'' und beendet seine 'Psalmodie' im Kommasprung zur unteren Kleinterz, worauf der eigentliche Tonsatz beginnt.

Von den etwa 40 Liedern auf die Schlacht bei Breitenfeld nahe Leipzig am 7./17. September 1631 [35] bediente sich eines ausdrücklich der Komposition von Schein, ein sonst unbekannter Theologiestudent war der Verfasser. [36] Der Ruf "Relation, Relation", ursprünglich nur für die erste Strophe bestimmt, leitet jede der 20 Strophen dieses "Triumphus Sueco-Saxonicus" ein. Zum geistlichen Lied wird er in seinen drei letzten Strophen, wo von Beten und Bitten die Rede ist und sogar Luthers "Feste Burg" anklingt (Str. 19).

Blieb hier die dichterische Nachahmung von Scheins 'Liebeskampf' auf die vorausgesetzte Musik (den "Thon"), die Strophenform und den Ruf beschränkt, so nähert sich der dichtende Pfarrer in Buttstädt bei Weimar Johann Röder in seinem "Dancklied für den erlangten edlen Frieden" (1648) [37] entschlossener dem poetischen Modell: Die Strophenzahl ist beibehalten (= sechs), der Ruf erklingt nur am Anfang, und es finden sich wörtliche Bezüge, am deutlichsten in Strophe 2, wo der ganze erste Vers übernommen wurde ("Diß ist gegangen also zu"). Außer Strophe 1 hat auch Strophe 4 viel Ähnlichkeit mit dem alten Gedicht. Aus dem Liebesgott Cupido ist Kriegsgott Mars geworden, aus dem Bräutchen Filli jedoch der Acker, den der Landmann nun endlich wieder für die Frucht vorbereiten kann - dank göttlicher Hilfe.

Um die neue Dichtung auch dem einfachen Gläubigen singbar zu machen, verzichtet Röder nun allerdings auf Scheins Musik und verlangt als Thon die für vorliegende Strophenform fast obligatorische Melodie des alten Täuferlieds "Kommt her zu mir, spricht Gottes Sohn" [38], die ihrerseits (als "Lindenschmied-Thon") [39] "publizistisch" anmutet und die vielleicht auch Schein bei seinem Waldliedlein vorgeschwebt hat. [40]

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ANMERKUNGEN

1.Scheitler 1982, Kap. 1. Die - von Scheitler nicht diskutierte - zeitliche Grenze wird etwa durch Johann Crüger (1640) markiert: vgl. Blankenburg 1957, S. 98. Hans-Wolf Becker hebt den Wandel in den Textaussagen nach 1650 hervor: Becker 1953.
2.Brednich 1974, I, S. 129f.
3.Messmer 1996, Sp. 1773-1779.
4.Grimm 1905, Sp. 705.
5.Scheitler 1982, S. 269.
6.Schmidt 1957, S. 127.
7.Kategorie "In den Betstunden" der am Ende des Cantionals befindlichen "Kirchen-Ordnung": Schein 1967, S. XVI.
8.Epstein 1929, S. 52-56 und 60-67.
9.Zahn 1963, Nr. 4537.
10.Winterfeld 1966, S. 104.
11."Bitt- und Dankgottesdienste [...] wurden [...] außer in Volksandachten und Predigten oft mit einem solennen Amt oder Te Deum begangen": Ursprung 1924, S. 279, Anm. 1.
12.Reichert 1951, S. 60 und 87. Zwei Strophen eines dreistimmig durchkomponierten zehnstrophigen Jesusliedes in Widmann 1959, S. 26f.
13.Thomas 1966, S. 84-86.
14.Belege etwa in Ameln/Jenny/Lipphardt 1975.
15.Zum folgenden vgl.Bohn 1969, S. 60-68; Epstein 1985.
16.Wie die anderen sieben Gelegenheitsdrucke dieses Meisters unikal in Breslau erhalten.
17.Walter 1955, S. 76f. und (Faksimile des Titelblatts) S. 87.
18.Frank 1980, S. 573-580.
19.Seine Schrift zum Krieg (1628) erwähnt Trunz 1987, S. 39.
20.Trunz 1987, ebd.
21.Thümmler 1941, und - im deutschen Fernleihverkehr nicht zu beschaffen - Eby 1971.
22.Kindermann 1977, bes. S. 54.
23.Nr. 6 und 15 einer 29teiligen Reihe nach Ameln/Jenny/Lipphardt 1975, S. 225f.; Nr. 7 und 16 einer dreißigteiligen Reihe bei Thümmler 1941, S. 67-69.
24.Die Aufschlüsselung in Ameln/Jenny/Lipphardt 1975 gibt irrig auch hier das Jahr 1630 an.
25.Fähnrich Hieronymus Schwartzlose, dem Dilliger 1631 einen Grabgesang widmete, war fraglos ein Verwandter (Neffe?) des Amtsschössers: vgl. Wecken 1932, S. 270.
26.20 Proben (nicht unser Text) aus dem Gesamtwerk bei Fischer 1964, S. 142-161.
27.Braun 1958f., S. 124.
28.Fabian o.J., Microfiche 243, S. 276.
29.Trunz 1987, S. 275.
30.Es handelt sich um Parodien, die bei Dilliger wiederkehren: Fischer 1964, Nr. 457, 465, 470.
31.Rist 1967ff.,II, S. 44.
32.Musica boscareccia, Villanellen zu drei Stimmen mit Generalbaß 1621/1626/1628: Schein 1989, S. 44f.
33.Schroeder 1916, S. 75.
34.Frank 1980, S. 447-450.
35.Wustmann 1909, S. 178.
36.Abgedruckt bei Ditfurth 1972, Nr. 70.
37.Fischer 1964, Nr. 99.
38.Frank 1980, S. 447-450.
39.Vgl. Zahn 1963, Nr. 2496 a-c.
40.Es entspricht im Cantional 1627 (Nr. 125) bis auf den Schluß der Lesart Zahn 1963, Nr. 2496c von 1534: Schein 1965, S. 123.

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